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Russland und Ukraine: Zwei »verspätete Nationen«
Großrussischer Imperialismus und großukrainischer Nationalismus in der Konkurrenz zweier Oligarchen-Wirtschaftssysteme
Der Zerfall der Sowjetunion nach dem Putsch gegen ihren Präsidenten Michail Gorbatschow bot den Machthabern in den Unionsrepubliken endlich die Gelegenheit, die relative Autonomie, die sie gegenüber dem Moskauer Zentrum bereits besaßen, in eine Unabhängigkeit ihrer Staaten und damit ihres Machtbereichs zu überführen. Neben dem belorussischen Präsidenten führten der russische Präsident Jelzin und der ukrainische Präsident Krawtschuk in ihrem Vertrag vom 8.12.1991 aktiv das Ende der völkerrechtlichen Existenz der Sowjetunion herbei. Sie verstanden sich als Reformer unter den Kommunisten, durch die sie an die Spitze ihrer Staaten gelangt waren und als deren nationale Alternative sie sich nun darstellten.
Die unter Gorbatschows Reformpolitik von Perestroika und Glasnost in der Bevölkerung entstandenen Demokratiepotenziale wurden durch die offizielle Übernahme westlicher Muster schnell kanalisiert. Es wurde in beiden Ländern formell eine Demokratie in der Gestalt einer Präsidialrepublik etabliert. Unter den westlichen Ideologien herrschte aber in den 90er Jahren der amerikanische Neoliberalismus vor, der auf die Übertragung des Modells freier Kapitalmärkte auf tendenziell alle gesellschaftlichen Verhältnisse setzte. Es ging nicht mehr um die demokratische Regulierung, sondern um die Deregulierung von nun global freien Kapitalmärkten, wodurch die Staaten in eine Standortkonkurrenz um Kapitalanlagen getrieben wurden.
Prof. Hans-Peter Krüger, Jahrgang 1954, ist promovierter Philosoph und war in den 80er Jahren an der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin tätig. Seit 1996 war er ordentlicher Professor für Praktische Philosophie an der Universität Potsdam. Gastprofessuren führten ihn nach Pittsburgh, Kraków, Minsk, Wien und Uppsala.Der hier veröffentlichte Text ist eine gekürzte Passage aus Krügers Schrift »Russland–Ukraine: ein doppelter Stellvertreterkrieg. Wer übernimmt Verantwortung für dessen Beendigung?«. Darin erörtert der Autor Ursachen und Vorgeschichte dieses Krieges sowie mögliche Wege, die aus der militärischen Konfrontation herausführen könnten. Der vollständige Text ist als Beilage zu der in Hamburg herausgegebenen Zeitschrift »Sozialismus«. www.vsa-verlag.de
Westliche Regierungen, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, westliche Beratergruppen und Banken übten starken Druck aus, die staatssozialistischen Länder durch eine Schocktherapie, das heißt durch die schnelle und konsequente Privatisierung des staatssozialistischen Eigentums, in die neoliberale Globalisierung unter Führung der USA einzugliedern. Innerhalb eines Jahrzehnts fand eine massenhafte Enteignung der ukrainischen und russländischen Bevölkerungen durch diejenigen Teile ihrer alten Reformeliten in Wirtschaft, Politik, Militär und Sicherheitsdiensten statt, die durch ihre alten inneren und neuen äußeren Netzwerke zu privaten Großeignern und deren Nutznießern in informellen Machtzirkeln aufsteigen konnten.
Je stärker die sozialen Antagonismen aufbrachen, je mehr der aus der Sowjetunion gewohnte Sozialstaat wegbrach, desto exklusiver und militanter geriet die Form des Nationalismus, um den Unterschichten und abstürzenden Mittelschichten in ihr eine dennoch bessere Zukunft verheißen zu können. Die nationalen Identitäten mussten, sollten sie die Motivationskraft ihrer Adressaten beflügeln, aus geschichtlich heroischen Ansprüchen auf die je eigene Gemeinschaftlichkeit imaginiert werden, die sich nun endlich im nationalstaatlichen Zusammenhalt gegen ihre sowjetische Unterdrückung befreien und in Zukunft selbstbestimmt realisieren lassen sollten.
Oligarchen selber, die überall auf der Welt in ihren Villen und auf ihren Yachten leben können, brauchen keinen Nationalismus, sondern einen Globalismus der Deregulierungen. Aber für alle, die unter diesen Verhältnissen des Absturzes den Glücksrittern nacheifern, endlich in eine der Mittelschichten oder gar Oberschichten aufsteigen wollen, verheißt der Nationalismus ein gemeinschaftliches Fortkommen, das die schnöde kapitalistische Konkurrenz ins Erhabene einer geschichtlichen Mission übersteigt. Zudem lassen sich seine Stereotypen schnell erlernen und nur unter umgekehrtem Vorzeichen selbständig ausmalen. Erhalten blieben die Strukturen der – unter dem Kommunismus und in der orthodoxen Kirche erworbenen – Dogmatik. Das schnelle Umlernen nicht nur der Politiker und Journalisten, sondern auch in den Lehr- und Erziehungsberufen einschließlich derjenigen von Hochschulprofessoren, die es nicht ins Ausland geschafft haben, entbehrt nicht der Komik, wenn nur nicht die nationalistischen Staatsdoktrinen derart tragische Auswirkungen hätten.
Im zweiten Jahrzehnt ihrer Unabhängigkeit, in den 2000er Jahren, trennten sich strukturell die Wege der Ukraine und der Russischen Föderation. In Russland übernahm das Geheimdienstnetz des früheren sowjetischen KGB unter Wladimir Putin die Oligarchenherrschaft, teils, indem Geheimdienstler selbst direkt und indirekt Oligarchen wurden, teils indem sie ihre operative Herrschaft über die Staatsbetriebe ausbauten, teils, indem sie andere Oligarchen disziplinierten, ins Ausland vertrieben, ins Gefängnis steckten und umbrachten.
Insofern kann man in Russland vom Übergang des »Oligarchenkapitalismus« zu einem »Staatskapitalismus« sprechen, der geschichtlich gesehen die besondere Gestalt eines »KGB-Kapitalismus« hat, also aus der imperialen Tradition der Sowjetunion herkommt. Sie wurde, im Gegensatz zu den russischen Kommunisten, nicht mehr sozialistisch verstanden, sondern in die größere Geschichte des russländischen Zarenreiches eingeordnet, das als die eurasische Großmacht der Zukunft ausfantasiert wurde, um nicht nur für die ethnischen Russen, sondern die multiethnischen Völkerschaften der russländischen Welt attraktiv werden zu können. In Russland standen sich die demokratische »Staatsbürgernation« und die »imperiale Nation« gegenüber: »Die imperiale Nation gewann zu Beginn des neuen Jahrtausends die Oberhand und wurde in der Folge zunehmend ethnisiert. Trotz ihres Vielvölkercharakters verwandelt sich die russländische Föderation allmählich in einen russischen Nationalstaat«, so der österreichische Historiker Andreas Kappeler, was die Konflikte in ihren Grenzregionen anheizt.
Demgegenüber blieb der ukrainische Oligarchenkapitalismus in sich zwischen russophilen und westlich orientierten Oligarchen gespalten, die mit ihren je eigenen wirtschaftlichen, bewaffneten, politischen und medialen Netzwerken um die Vorherrschaft im Gesamtstaat kämpften. Diese instabile Lage erforderte je nach Kräftekonstellation verschiedene Regimes, denen entweder ein Ausgleich glückte oder ein Umschwung zur westlichen Seite gelang, bis dieser wieder durch Spaltungen verloren ging und 2013/14 im Euro-Maidan kulminierte.
Diese demokratische Revolution von unten ließ sich aber nicht ohne rechtsradikale Gewalt und Rechtsbrüche gegen die russophilen Gewalteinsätze der ukrainischen Sicherheitskräfte halten und in eine prowestliche Übergangsregierung mit Neuwahlen des Präsidenten überführen, in denen der prowestliche Oligarch Petro Poroschenko siegte. Das russische Regime fürchtete das Überschwappen des Euro-Maidan in seinen Machtbereich und nutzte die rechtsradikalen ukrainischen Milizen als Vorwand für seine Invasion in den Donbass und seine Annexion der Krim 2014 aus.
Der Krieg konnte zwar 2015 durch das Minsker Abkommen unter Vermittlung Frankreichs und Deutschlands in einen Waffenstillstand transformiert werden, den aber beide Kriegsparteien immer wieder brachen. »Im ukrainischen Nationalstaat«, schreibt Kappeler, »konkurrierte das Projekt der ethnischen Nation mit dem der Staatsbürgernation, die sich im Euro-Maidan und in der Abwehr der äußeren Gefahr konsolidierte, und mit dem Kleinrussentum, das infolge des russisch-ukrainischen Krieges an Boden verlor.«
Die Lobeshymnen auf staatsbürgerlichen Patriotismus für die eigene Demokratie gegen die ethnischen Nationalismen beruhen in ganz Europa und insbesondere in Osteuropa auf der realen Gefahr des Anwachsens ethnischer Konflikte. Wir sitzen erneut auf dem Pulverfass dieser Streumunition und kennen ihre Resultate aus der Geschichte. Dies verdeutlicht Andreas Kappeler, wenn er Russland und die Ukraine zwei »verspätete Nationen« nennt. Helmuth Plessner, auf den sich Kappeler bezog, beurteilte Deutschland paradigmatisch als eine »verspätete Nation«, womit nicht nur gemeint war, dass die kapitalistische Industriegesellschaft und der Nationalstaat, sondern vor allem die Demokratie in Deutschland »später« als in den westlichen Staatsbürgernationen Englands, der Niederlande, der USA und Frankreichs errungen und durch Habitualisierung in der Generationenfolge stabilisiert werden konnte.
In der Tat drängt sich historisch ein Vergleich des Deutschen mit dem Russischen Reich auf, deren ethnische Titularnationen selbst nur als die Mehrheiten von insgesamt gemischten Bevölkerungen und zudem als die Minderheiten in anderen Staaten mit anderen Mehrheitsbevölkerungen ansässig waren. Die deutsche Frage nach ihrer kleindeutschen (preußisches Reich) oder großdeutschen (unter Einbeziehung Österreichs) Lösung war von vornherein eine europäische Frage, worüber Bismarck noch bestens Bescheid wusste. Die eigentlich feudale Reichstradition wurde für den weltgeschichtlichen Konkurrenzkampf zwischen hochkapitalistischen Imperien im deutschen Falle so umgedeutet, dass daraus eine Motivationskraft für zwei Weltkriege hervorging.
Der russische Geschichtsrevisionismus zugunsten eines eurasischen Imperiums bemühte sich – strukturell dem deutschen Falle ähnlich – darum, in der Russländischen Föderation die russische Hegemonie im ethnischen Sinne zu legitimieren und die russischsprachigen Minderheiten in den Nachbarländern als Vorwände für seine Expansion auszunutzen. Diese Gefahr von Bürgerkriegen und Kriegen wird umso wahrscheinlicher, je ethnisch autoritärer die Formen des Nationalismus auch in den Nachbarländern des Baltikums, Polens, der Ukraine, des Kaukasus und Kasachstans werden. Schließlich ist auch eine gewisse historische Parallelisierung des Schicksals der jahrhundertelangen Teilungen von Polen mit denen der Ukraine plausibel. Beide Nationen hatten zwar unter der sowjetischen Herrschaft eine relative Autonomie, wodurch sich überhaupt ihre Nationalkulturen und Sprachen in der Generationenfolge regenerieren und verbreiten konnten, aber beide errangen ihre nationalstaatliche Unabhängigkeit erst nach der Auflösung der Sowjetunion.
Kappeler weigert sich zu Recht, solche historischen Parallelisierungen verschiedener verspäteter Nationen auf falsche Weise zu aktualisieren, weil dadurch die heutige Lage und ihre Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft verdunkelt würden. Zu diesem falschen Geschichtsrevisionismus auf beiden Seiten gehöre der gegenseitige Vorwurf des »Genozid« aneinander, wodurch beide Seiten den Holocaust relativieren. Ebenso wirft die Kriegspropaganda der jeweils anderen Seite »Faschismus« vor, womit nicht der originäre italienische Faschismus gemeint ist, sondern die Indienststellung des sowjetisch gemeinsamen Sieges über das nationalsozialistische Deutschland, das von Stalin Faschismus genannt wurde, für den jeweils eigenen Zweck. Man borgt sich im je eigenen Geschichtsrevisionismus aus der Geschichte, was gerade für die eigene Machtentfaltung zu passen scheint, und gerät dadurch in Widerspruch zu anderen Teilen der eigenen Propaganda, etwa dem doch geteilten Antikommunismus.
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