Wo sind die Lebemenschen?

Die Neobiedermeier-Romane unserer Zeit schreien nach einer anderen Literatur – einer aus den 80ern

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.
Noch weniger Natur für Rainald Goetz: Urbane Reizüberflutung in New York City
Noch weniger Natur für Rainald Goetz: Urbane Reizüberflutung in New York City

Irland geht es bombig. Das Land, das die IRA und die Pogues hervorbrachte, ist mittlerweile so streichzart wie die Butter seiner Weidekühe. Daran ist der Steueroasen-Kapitalismus schuld. Heute ackern mehr Menschen im Finanzwesen als in der Landwirtschaft. Der Boom hat dem Lebensstandard gutgetan, der Kunst weniger. Zwischen Einbauküche und Polstergarnitur geht es eher ruhig zu. Hier darf der Außenseiter noch ein behütetes Nesthäkchen sein – wie in dem Roman »Leonard und Paul« von Rónán Hession, der gerade auf Deutsch erschienen ist.

Es ist eine harmlose Geschichte über die Freundschaft zweier Eigenbrötler, die sich vorsichtig aus ihrer Komfortzone heraustasten. Die ironische Phrase »Gut, dass wir darüber geredet haben« wird hier noch ernst genommen. Jeder versteht jeden, und sollte es mal den Hauch eines Missverständnisses oder – Gott behüte! – den Ansatz eines Konflikts geben, wird solange friedlich darüber gesprochen, bis der Eierkuchen vor Freude aus der Backform hüpft. Man mag nicht glauben, wie hellsichtig und lösungsorientiert diese Gespräche in »Leonard und Paul« ablaufen. Das ist Kitsch fürs volkshochschulgebildete Bürgertum, das vorm Einschlafen gern einen sensiblen Wohlfühlroman konsumiert.

Damit könnte man es auf sich beruhen lassen, wäre »Leonard und Paul« nicht für diverse Literaturpreise nominiert worden: So qualifizierte sich der Roman für die »Irish Book Awards«, die »British Book Awards« und den »Irish Novel of the Year Award«. Das ist der Moment, an dem man innehält und sich fragt, was Literatur eigentlich ausmachen sollte. Die Antwort darauf ist einfach und seit jeher die gleiche: Horizonterweiterung. Egal, ob man eine allwissende Erzählerin wie Jane Austen und einen subjektiven Gonzo-Journalisten wie Hunter S. Thompson liest, es geht um die literarische Fähigkeit, eine Welt hinter der Welt zu zeigen.

Was aber Literatur nicht sein sollte: Besänftigungslektüre – das Äquivalent zur Endentspannung beim Yoga, wenn der Einklang von Körper, Geist und Seele bekundet wird. Doch eben das praktizieren Bücher wie »Leonard und Paul«. Sie räumen etwaige Zweifel am Zustand der Welt behutsam beiseite und entlassen den Leser mit dem beruhigenden Gefühl, dass letztlich alles gut wird, weil selbst der nerdigste Nerd seine Nische findet.

Über solche Wirklichkeitsflucht wurde in den 80ern noch die Nase gerümpft. Lieber eine erbarmungslose Realität als eine verlogene! Es galt seinerzeit die Devise, dass man sich der hochtechnisierten Computerwelt stellt, ja, sie sogar bejaht. Schließlich findet das Leben im kalten Licht der Neonröhren statt und nicht vor malerischen Sonnenuntergängen an einsamen Stränden. Davon handelten die »Texte zum Thema« (Untertitel) in der Anthologie »Rawums«, die Peter Glaser 1984 bei Kiepenheuer & Witsch herausgab. In dem Text »Subito« von Rainald Goetz heißt es: »Am wenigsten brauche ich die Natur. Ich wohne doch in der Stadt, die wo eh viel schöner ist. (…) Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop.« Und in diesem Pop macht man sich damals jenes Instrument zunutze, das die Computerwelt verkörpert: den Synthesizer, der auch gar nicht mehr so teuer ist wie noch in den 70er Jahren.

Nicht jedem gefällt das. In dem Text »Das Debakel von Mainz« beschreibt Michael O. R. Kröher eine gemeinsame Lesung mit Diedrich Diederichsen auf einem Studentenfestival: »Ihr sei das alles viel zu technisch, platzte eine Studentin dazwischen, diese ganzen Synthesizer, die Computer, alles programmierbar, elektronisch. Maschinenmusik. Damit wolle sie nichts zu tun haben. Da ginge ihr der Mensch verloren.« Kröher und Diederichsen kontern diese piefige Verweigerungshaltung mit den Worten: »Zurück zur U-Bahn zurück zum Beton!« – einem Zitat der Gruppe S.Y.P.H.

Im Kampf gegen die »fusselbärtigen Hippies« lösen sich Grenzen auf. Gemeinsam mit dem Musiker und Autoren Xao Seffcheque ruft der computerbegeisterte Peter Glaser 1981 das Musikprojekt O.R.A.V.s (»Ohne Rücksicht auf Verluste«) ins Leben. Es geht darum, Fehlfarben-Songs zu persiflieren. Der Clou dabei: Die Fehlfarben-Mitglieder Thomas Schwebel und Peter Hein wirken selber mit. Letzterer gibt bald darauf die Band auf und widmet sich wieder seinem Hauptberuf als EDV-Spezialist, spielt aber mit Seffcheque bei der Band Family 5, bevor er dann zu Beginn der 90er zu den Fehlfarben zurückkehrt.

Der Österreicher Peter Glaser hingegen, von Haus aus Journalist, versucht die Welt der Rechner und die der Literatur zusammenzubringen. Als erster Autor im deutschsprachigen Raum begreift er, dass sich mit dem Vormarsch der Bits und Bytes auch das Kulturleben verändert. Als Herausgeber von »Rawums« beginnt er den Sammelband mit einem »Explosé«, dessen »Zeilenmarkierung in Zehnersprüngen und Subnotationen (…) nach dem Listing-Schema von Computerprogrammen« aufgebaut ist.

Die Sammlung selbst ist Freestyle. In »Rawums« finden sich nicht nur Texte von Größen des Popjournalismus und der Popliteratur, die für die Musikzeitschriften »Sounds« und »Spex« arbeiteten und schrieben wie Rainald Goetz, Joachim Lottmann, Diedrich Diederichsen, Jutta Koether und Clara Drechsler, sondern auch Bilder und Collagen von Martin Kippenberger. Heute würde man hochtrabend von einem »ganzheitlichem Ansatz« sprechen; damals war es selbstverständlich, dass sich Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Feldern zusammenfanden.

1984 erschienen noch zwei weitere Anthologien: »Das Abschnappuniversum« bei Luchterhand sowie »Mammut« im März Verlag, herausgegeben von Jörg Schröder, dem »Erfinder des erweiterten Verlegertums« (Diederichsen). Diese Sammlung umfasste zwei Bände mit Texten aus den Jahren 1969 bis 1984 und brachte es auf rund 1300 Seiten. Die Auswahl der Autoren vermittelt eine Ahnung, in welch unterschiedliche Richtungen die Gesellschaft strebte. Da findet sich Bazon Brock neben William S. Burroughs, Nina Hagen neben Gudrun Ensslin, Tom Wolfe neben Ernst Jandl, Robert Havemann neben Rolf Dieter Brinkmann und Peter O. Chotjewitz neben Andy Warhol. Nichts passt zusammen und dennoch funktioniert es, weil aus den vielfältigen Sichtweisen ein faszinierend flirrendes Kaleidoskop entsteht.

Die Anthologie »Das Abschnappuniversum« bringt es nur auf knapp 200 Seiten – und die sind noch zu viel. Zu verantworten hat dies Herausgeber Oskar v. Reuth. Dahinter verbirgt sich Oskar Roehler, Sohn der linken Schriftstellerin Gisela Elsner (»Die Riesenzwerge«, »Das Berührungsverbot«) und des Luchterhand-Lektoren Klaus Roehler. Diese familiäre Beziehung ist vielleicht auch das Problem. Roehler versucht sich an seiner überlebensgroßen Mutter abzuarbeiten und schart »Achtzehn neue deutsche Erzähler« um sich, die eine Literatur erschaffen wollen, die kaputt und cool sein soll, meistens aber bemüht und verquast wirkt. Und wiewohl die Autoren nicht älter sind als die von »Rawums«, liegen bewusstseinsmäßig Generationen dazwischen. Die einen sind Schreibtischmenschen, die die Welt verpassen, die anderen Lebemenschen, die über die Welt schreiben.

Was die Autoren von »Rawums« noch verbindet: die Lust am Experiment, die Freude am Grenzen-Verschieben, überhaupt: Freude und Lust. Wir brauchen mehr Bücher wie »Rawums«. Denn rund 40 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen der Anthologie hat Goetz’ Forderung weiterhin Gültigkeit: »Die Dummheit und die Langeweile müssen noch vernichtet werden.«

Rónán Hession: Leonard und Paul. Aus dem irischen Englisch von Andrea O'Brien. Woywod & Meurer, 320 S., geb., 26 €
Peter Glaser (Hg.): Rawums. Texte zum Thema. 320 S., br., 9,90 €

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