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Schulen in Berlin: Leben mit dem Mangel
Zu viele Schüler, zu wenig Lehrkräfte: Die Frage, wie dem Lehrermangel beizukommen ist, spaltet Politik und Wissenschaft
Es geht wieder los: Wie in jedem Jahr suchen Bildungsverwaltung und Schulen zurzeit händeringend nach neuen Lehrkräften, um zu den Sommerferien in den Ruhestand gehende Kollegen zu ersetzen. Zudem gibt es Eltern, die immer noch nicht wissen, welche Schulen ihre Kinder ab August besuchen werden. Denn der Mangel ist flächendeckend: Ungefähr ein Drittel der derzeit tätigen Lehrkräfte in Berlin wird bis zum Ende des Jahrzehnts in den Ruhestand gehen. Bereits jetzt können im Durchschnitt vier von hundert Stellen an den Schulen nicht besetzt werden.
Aussicht auf Besserung gibt es wenig. »Es ist erstmal ein demografisches Problem«, sagt Felix Weinhardt. Der Bildungsökonom forscht an der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder) und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). »Mit den Babyboomern tritt jetzt die zahlenmäßig größte Kohorte auf dem Arbeitsmarkt ab und die nachkommenden Kohorten sind kleiner.« Das Problem betrifft auch andere Branchen, doch bei den Lehrkräften kommt hinzu, dass am anderen Ende die Zahl der Schüler steigt.
Was aber kann getan werden? Viele sehen vor allem die Universitäten in der Verantwortung, mehr Lehrkräfte auszubilden. Zurzeit verhandeln der Senat und die Universitäten über die sogenannten Hochschulverträge, die Finanzierung und Aufgaben der Unis regeln. Ursprünglich war der Abschluss der Verhandlungen für Mitte Juni geplant, doch ob der Zeitplan nach der unfreiwilligen Unterbrechung durch den Wahlkampf zur Wiederholungswahl eingehalten werden kann, ist unklar.
Nach den zuletzt gültigen Bestimmungen müssten die Hochschulen jedes Jahr 2000 Lehramtsstudierende ins Referendariat schicken. Die reale Zahl der Absolventen ist jedoch deutlich geringer: Im Schnitt nur etwa 900 Studierende machten in den vergangenen vier Jahren ihren Abschluss in Lehramtsfächern. Auch wenn angesichts der aktuellen Studierendenzahlen damit zu rechnen ist, dass die Zahl der Absolventen in den nächsten Jahren moderat steigen wird, kann der Bedarf so wohl nicht gedeckt werden.
Laut Koalitionsvertrag wollen CDU und SPD 2500 Lehrkräfte jährlich in Berlin ausbilden – allerdings nicht sofort. »In sechs oder sieben Jahren« sei diese Zielzahl realistisch, so Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) am Montag. Sie fügte hinzu: »Wenn wir schnell sind.« Vieles deutet darauf hin, dass sich Senat und Hochschulen für diese Runde der Hochschulverträge, die vier Jahre gelten sollen, auf 2300 Absolventen einigen werden.
Für Franziska Brychcy, Landesvorsitzende der Linkspartei und bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, ist das zu wenig. »Wenn man sich den Bedarf an den Schulen ansieht, wäre 3000 Absolventinnen und Absolventen die notwendige Zielzahl«, sagt sie »nd«. Die Zahl 2300 basiere auf einer veralteten Prognose. Auch wenn es nicht realistisch sei, die Absolventenzahl kurzfristig zu verdreifachen, sei es wichtig, ein bedarfsgerechtes Ziel festzulegen und die Universitäten entsprechend mit finanziellen Mitteln auszustatten. »Die Hochschulen müssen sich darauf verlassen können, dass das Geld reicht.«
Tatsächlich dürfte diese Zahl schwer zu erreichen sein, weil nur etwa 2800 Abiturienten jährlich überhaupt ein Lehramtsstudium an Berliner Hochschulen aufnehmen, von denen ein beträchtlicher Teil dieses wiederum abbricht. Vor allem im Grundschullehramt ist der Schwund groß, nur etwa 60 Prozent der Studienanfänger machen am Ende einen Abschluss. Diskutiert wird daher, das Grundschullehramt zu vereinfachen und schon Bachelor-Absolventen zu erlauben, in den Schuldienst einzutreten. Vor allem die Mathematikanteile im Grundschulstudium sollen zugunsten pädagogischer Inhalte gekürzt werden. So sieht es der Koalitionsvertrag vor. »Was braucht die reale Berliner Schule und was brauchen die jungen Menschen, die den Beruf ergreifen wollen?«, gibt Wissenschaftssenatorin Czyborra als Leitfragen vor.
Bildungsforscher Weinhardt stimmt der Vorschlag eher skeptisch: »Man tut den Kindern keinen Gefallen, wenn man die Qualität der Ausbildung senkt, nur um mehr Absolventen zu produzieren.« Verteufeln will er den Vorschlag aber auch nicht. »Wir wissen aus internationalen Studien, dass aus dem Erfolg im Studium nicht unbedingt darauf geschlossen werden kann, wie gut jemand am Ende den Schülerinnen und Schülern etwas beibringen kann«, sagt er. Auch Bachelor-Absolventen könnten also guten Unterricht bieten. Dies müsse aber durch Evaluation sichergestellt werden. Linke-Bildungspolitikerin Franziska Brychcy warnt dagegen vor einer »Schmalspurausbildung«.
Auch mit diesen Maßnahmen zeichnet sich allerdings ab, dass am Ende die Zahl der Absolventen wohl nicht genügen wird, um den Bedarf zu decken. In den Fokus rücken so Maßnahmen, die bei schon an den Schulen tätigen Lehrkräften greifen. »Ein Stück weit wird man sich an den Mangel gewöhnen müssen«, sagt Weinhardt. Erste Verteilungskämpfe brechen bereits aus. Weil es nicht genügend Bewerber gibt, verfügen viele Schulen nicht über genug Personal. Damit sich die Bewerber gleichmäßiger auf die Schulen verteilen, hatte der letzte Senat beschlossen, an einzelnen Schulen nicht mehr als 96 Prozent der vorhandenen Stellen besetzen zu lassen. Diese Regelung hat die neue Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) bereits wieder kassiert. In einem Brief an die Schulleitungen kündigte sie am Dienstag an, den Schulen so wieder »mehr Bewegungsspielraum« zuzugestehen.
Vor allem in Schulen in den Außenbezirken und in Brennpunkten wird befürchtet, dass Lehrkräfte, die bereits Stellen angenommen haben, wieder abspringen und sich erneut bei ihren Wunschschulen bewerben könnten. »Frau Günther-Wünsch macht Politik für bürgerliche Kieze und nicht für die Schülerinnen und Schüler«, kommentiert Brychcy das Vorhaben. Auch Bildungsforscher Weinhardt warnt vor Folgen für die Chancengleichheit, sollten einzelne Schulen dauerhaft deutlich unterbesetzt bleiben.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Verteilungswirkung der Personalkappung nur begrenzt war und es auch Lehrkräfte gab, die in ein anderes Bundesland gewechselt sind, weil sie nicht an ihrer Wunschschule in Berlin unterrichten konnten. Im gleichen Brief kündigt Bildungssenatorin Günther-Wünsch an, »intensiv prüfen« zu wollen, wie die Personalgewinnung besser gesteuert werden kann. An welche Maßnahmen sie dabei denkt, verrät sie allerdings nicht.
Weil der Mangel sich so verstetigt, werden inzwischen auch Einschnitte beim Stundenplan diskutiert. »Es kann nicht dauerhaft funktionieren, wenn 100 Prozent der Arbeit mit 96 Prozent des Personals geleistet werden muss«, sagt Brychcy. Am Sonntag hat ihre Linkspartei beschlossen, die Stundentafel unter Umständen zu reduzieren. Schulen solle es möglich sein, so Brychcy, zeitweise, befristete Kürzungen in den Fächern vorzunehmen. »Es geht um Qualität statt Quantität.« Die Hauptfächer sollen dabei von Kürzungen ausgenommen werden. Zurzeit müssten Instrumente wie Sprachförderung und Inklusion hinter der Stundentafel zurückstecken. »Aber viele Schülerinnen und Schüler können ohne Sprachförderung die geforderten Kompetenzen etwa im Fach Deutsch gar nicht erlangen«, sagt Brychcy.
Für Weinhardt sind solche Vorschläge Symptome einer »Mangelverwaltung«. Studienergebnisse belegten, dass mit mehr Stunden in einem Fach auch mehr gelernt werde. »Man muss schon genau hinschauen, wenn man da kürzen möchte.« Sinnvoller findet er es, sich den Arbeitsalltag der Lehrkräfte anzusehen und zu identifizieren, wo fachfremde Arbeit geleistet wird. »Viele Tätigkeiten haben mit dem eigentlichen Unterrichten nicht viel zu tun«, sagt er und denkt etwa an administrative Aufgaben oder IT-Verwaltung. »Da geht viel Zeit und Energie verloren.« Dabei könnten diese Aufgaben auch von anderen Fachkräften übernommen werden.
Den Einsatz solcher »multiprofessioneller Teams« hatte schon der rot-grün-rote Senat geplant. Auch die neue Bildungssenatorin Günther-Wunsch hat zu Beginn der Woche angekündigt, die Anstellung von IT-Fachkräften und Logopäden vereinfachen zu wollen. Doch auch so wird wohl eine Lücke verbleiben: Denn mehr als 40 Prozent der Lehrkräfte in Berlin arbeiten in Teilzeit. Zu Beginn des Jahres hatte ein Papier des wissenschaftlichen Beirats der Kultusministerkonferenz für Aufsehen erregt: Die Bildungsforscher forderten, die Teilzeitquote notfalls mit Verboten deutlich zu senken.
»Bei solchen Vorschlägen frage ich mich manchmal, was für ein Bild die Leute vom Lehrerberuf haben«, sagt Weinhardt. Als Lehrer in Vollzeit zu arbeiten, sei eine »sehr anspruchsvolle Aufgabe«. Das sehe man schon am Krankenstand. »Viele können einfach nicht mehr in Vollzeit.« Auch von einem Bonus für Lehkräfte, die Vollzeit arbeiten, erwartet er nur geringe Effekte.
Bonuszahlungen werden indes auch an anderer Stelle diskutiert. »Die vielen motivierten und engagierten Lehrkräfte in unserem Land brauchen nicht nur mehr Anerkennung, sondern auch eine leistungsorientiertere Bezahlung«, sagte die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) im Dezember. Eine solche Leistungsprämie könnte es in Berlin schon bald geben. Eine entsprechende Verordnung existiert bereits. Sie entstand schon vor der Debatte um den Lehrkräftemangel und soll in der Verwaltung bereits vorhandene Prämiensysteme auch an den Schulen etablieren – doch in der aktuellen Debatte ist es unausweichlich, sie auch im Kontext der Personalgewinnung zu sehen.
Bis zu zehn Prozent der Beschäftigten sollen eine solche Prämie erhalten können. Belohnt werden sollen laut einer an die Schulen verteilten Übersicht vor allem Zusatzaufgaben wie Oberstufenkoordination oder AG-Angebote am Nachmittag. Die Schulleitungen sollen vorschlagen können, wer die Prämie erhält. In den Lehrerzimmern sorgte die Ankündigung nicht nur für Begeisterung. An der Otto-Wels-Grundschule in Kreuzberg unterschrieb eine Mehrheit des Kollegiums einen offenen Brief gegen die Leistungsprämien. »Alle Kolleg*innen geben schon jetzt täglich ihr Bestes«, heißt es im Brief. Mit den Prämien werde eine »Konkurrenzkultur« in den Kollegien eingeführt. Auch an der Anna-Seghers-Gemeinschaftsschule in Adlershof protestieren Lehrkräfte mit einem offenen Brief.
»Viele Kollegen fühlen sich verschaukelt, wenn eine Leistungsprämie eingeführt wird, statt die alltäglichen Probleme anzugehen«, kritisiert auch Robert Odarjuk, Lehrer an der Nürtingen-Grundschule in Kreuzberg und Mitglied des Personalrats der allgemeinbildenden Schulen in der Region Friedrichshain-Kreuzberg. »Kollegen, die zum Beispiel wegen Kindererziehung in Teilzeit gehen, ältere Kollegen, die die Schule bald verlassen, oder unbequeme Kollegen, die sich auch mal kritisch äußern – alle diese Gruppen haben schlechte Chancen auf die Prämie«, sagt er. Objektive Kriterien, an die die Vergabe geknüpft werden könnte, gebe es ohnehin nicht, so dass die Auswahl mit großem Aufwand verbunden sei. »Der Fachkräftemangel belastet alle Kollegen, aber getan wird jetzt nur etwas für ganz wenige«, kritisiert er. »Gute Schule geht nur gemeinsam.« Die Bezahlung sei ohnehin nicht das Problem, sondern die fehlende Wertschätzung, die schlechten Arbeitsbedingungen und die hohe Arbeitsbelastung.
So schwierig die Situation bereits ist – wenn die Politik keine Lösungen findet, könnten die Folgen noch schwerwiegender sein. »Wenn im Bildungssystem etwas nicht gut läuft, dann führt das sehr schnell dazu, dass soziale Ungleichheiten zunehmen«, warnt Bildungsforscher Weinhardt. Was an Unterricht ausfalle, müsse in den Familien nachgeholt werden. Doch nicht alle Familien könnten dies kompensieren, das habe man in der Corona-Pandemie gesehen. Das könnte sich wiederholen: »Der Lehrermangel trifft nicht alle gleichermaßen.«
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