Katalonien: Politisch geteilt, kulturell vereint

Der Kitt für Kataloniens zerstrittene Unabhängigkeitsbewegung ist die gemeinsame Sprache – und die Kultur

  • Martin Ling, Barcelona
  • Lesedauer: 8 Min.

Sie ist nach wie vor unerreicht. Mercè Rodoreda (1908-1983) gilt als die wichtigste auf Katalanisch schreibende Schriftstellerin und wurde in über 40 Sprachen übersetzt. Demnächst gibt es drei ihrer Bücher auf Chinesisch, darunter ihr weltberühmter Roman »Auf der Plaça del Diamant«. Übersetzt von einer Katalanisch sprechenden Chinesin, erzählt Pere Almeda, Direktor des Instituts Ramon Llull, das sich vergleichbar mit dem Goethe-Institut um die Verbreitung und Förderung der katalanischen Sprache und Kultur bemüht. In China gibt es bisher nur sehr wenige Übersetzungen aus dem Katalanischen, Rodoredas Bücher werden dort bald in Auflagen von 50 000 Stück herausgegeben werden. Ein wichtiger Prestigeerfolg, auf den Almeda sichtlich stolz ist.

An Rodoredas Erfolge und Auflagen reichen sie zwar nicht heran, aber auch unter den erfolgreichen zeitgenössischen Schriftsteller*innen finden sich einige Katalaninnen. Almeda nennt Eva Baltasar, Marta Orriols und Irene Solà stellvertretend, von allen dreien gibt es bereits frisch auf Deutsch übersetzte Werke. Dazu hat auch der Auftritt Spaniens bei der Buchmesse in Frankfurt 2022 beigetragen. Bereits 15 Jahre zuvor war Katalonien als eigenständiges Gastland dort vertreten, was damals umstritten war. Traditionell widmet sich die Messe nämlich einem ganzen Land. Damals war die Sprache das entscheidende Kriterium für eine Einladung.

Katalanisch sprechen zehn Millionen Menschen, nicht nur in Katalonien, auch im Süden Frankreichs, in Andorra, der Region Valencia und auf den Balearen ist Katalanisch für viele Muttersprache und teils auch Amtssprache. Der Traum von der Unabhängigkeit lebt zwar, bisher blieb den Katalan*innen ein eigenständiger Nationalstaat ebenso verwehrt wie das Recht auf Selbstbestimmung, für das sich laut der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CEO 77 Prozent aussprechen. 43 Prozent befürworten bei derselben Umfrage eine Unabhängigkeit, 50 Prozent sind dagegen, der Rest ist unentschieden.

Das Unabhängigkeitslager ist derzeit allerdings zerstritten. Die sozialdemokratische Republikanische Linke (ERC), die derzeit erstmals seit den 30er Jahren mit Pere Aragonès in Katalonien wieder den Regierungschef stellt, setzt auf Dialog mit den in Madrid regierenden Sozialdemokraten der PSOE. Dem Ziel eines paktierten Unabhängigkeitsreferendums ist sie damit bislang aber keinen Schritt näher gekommen. Die liberale Junts per Catalunya (Gemeinsam für Katalonien) – die Formation von Exilpräsident Carles Puigdemont – hat diesem fruchtlosen Dialog wie die antikapitalistische CUP eine Absage erteilt. Im Oktober 2022 hat sie nach einer Mitgliederbefragung die Koalitionsregierung mit der ERC verlassen. Auch die CUP hat ihre Tolerierung der Regierung aufgekündigt. Bei den Kommunalwahlen am 28. Mai kommen erstmals nach dem Bruch der Koalition im vorigen Jahr die Wähler*innen wieder zu Wort.

Dass Katalonien auf der Frankfurter Buchmesse als Teil Spaniens mit vertreten war, ging auf die Initiative des Instituts Ramon Llull zurück, benannt nach einem mallorquinischen Philosophen aus dem Mittelalter, der im 13. Jahrhundert eine der ersten Schriften auf Katalanisch verfasst hat. »Wir sind auf das spanische Kulturministerium zugegangen und haben Kooperation angeboten«, erzählt Almeda dem »nd«. Von Madrid selbst gab es fünf Jahre nach dem einseitigen Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017 und dem danach eskalierenden Katalonien-Konflikt keine Bestrebungen, die katalanische Literatur mit ihren Schriftsteller*innen einzubinden.

Das Kriterium hierfür ist das Schreiben in katalanischer Sprache, unabhängig von der ethnischen Herkunft. Die in Marokko geborene und später in Katalonien aufgewachsene Najat El Hachmi gilt selbstverständlich als katalanische Schriftstellerin und hat 2008 auch den Ramon-LLull-Preis für ihren Roman »Der letzte Patriarch« gewonnen. Madrid nahm das Angebot zur Kooperation von Almeda an, und so war katalanische Literatur auch bei der Buchmesse präsent. Unter anderem mit der Schriftstellerin Irene Solà, deren zweiter Roman »Singe ich, tanzen die Berge« dank des im Rahmen der Buchmesse initiierten Förderungsprogramms für Übersetzungen auf Deutsch erschienen ist.

»Einzigartig und universell« – unter diesem Motto präsentierte sich die katalanische Kultur 2007 auf der Frankfurter Buchmesse. Diese Eigenwahrnehmung ist der Grund, weshalb ein so großer Wert auf die Bewahrung der Sprache und der Kultur Wert gelegt wird, die in der Franco-Diktatur (1939-75) unterdrückt wurde. In dieser Zeit war das Sprechen auf Katalanisch in der Öffentlichkeit untersagt, und Katalanisch-Lehrer*innen standen quasi mit einem Bein im Gefängnis.

Gefeiert wird die katalanische Kultur an keinem Tag so enthusiastisch wie rund um den Welttag des Buches, der seit 1995 auf Betreiben der Unesco am 23. April begangen wird. In Katalonien fällt der Tag, an dem Cervantes und Shakespeare 1616 zeitgleich das Zeitliche gesegnet haben sollen, mit dem Tag des Schutzpatrons Sant Jordi zusammen. Das ist der wichtigste Feiertag in Katalonien zu Ehren des heiligen Georg, der einer Legende zufolge einen Drachen erlegt haben soll und damit eine Prinzessin vor dem Opfertod bewahrte. Seit dem 15. Jahrhundert gilt der Namenstag als Tag der Verliebten, an dem Männer ihren Frauen eine Rose schenken.

Vor rund 90 Jahren stellte ein geschäftstüchtiger Buchhändler fest, dass Sant Jordi mit dem Todestag von Cervantes zusammenfällt, weshalb die Frauen im Gegenzug für die Blume ihren Männern ein Buch kaufen könnten. So klassisch läuft das 2023 zweifellos nicht mehr ab. Meistens werden beiderseits sowohl Rosen als auch Bücher geschenkt, gerne auch über Partnerschaften hinaus. Für Buchhändler*innen sind Sant Jordi und die Tage davor die umsatzstärksten des Jahres, für Blumenhändler*innen erst recht. 2023 wurden über 6 Millionen Rosen verkauft. Die Straßen quollen über vor Menschen, die sich durch Bücher- und Blumenstände schlängelten. Nach den Pandemiejahren 2020 und 2021 fand im vorigen Jahr Sant Jordi erstmals wieder auf den Straßen statt, auch wenn zwei schwere Unwetter zur Mittagszeit den Tag und auch das Geschäft trübten. 2023 war an einem sonnigen Tag mit knapp über 20 Grad alles bestens. Zwei Millionen verkaufte Bücher und 25 Millionen Euro Umsatz vermeldete die Buchhandelskammer in einer ersten Schätzung.

Die katalanische Kultur blüht und nicht nur die Literatur. Die Gruppe Companyia Elèctrica Dharma aus dem Stadtteil Sants in Barcelona hatte sich der katalanischen Unabhängigkeit schon verschrieben, als die noch ein randständiges Thema war, nämlich seit ihren Anfängen 1973, zwei Jahre vor Ende der Franco-Diktatur. 1985 brachten sie ein legendäres Album zum Thema Unabhängigkeit heraus: Deu anys de resistència: Força Dharma! (Zehn Jahre Widerstand, Vorwärts Dharma). Am Vorabend des Sant Jordi-Tages feierte die Gruppe mit dem Who is Who der katalanischen Musikszene ihr 50-jähriges Bestehen mit einem Jubiläumskonzert. Schauplatz war die Multifunktionsarena Palau Sant Jordi auf dem Montjuïc, dem Hausberg Barcelonas mit malerischem Blick auf die Stadt. Kataloniens berühmteste Folkrock-Fusion-Band, die von den drei Brüdern Fortuny gegründet wurde, von denen nur noch Joan am Leben ist, begeistert seit Jahrzehnten mit ihrem Zusammenspiel aus Schlagzeug, Bass, E-Gitarre und Synthesizer sowie einem Sopransaxofon zu katalanischen Texten.

So sehr die katalanische Kultur auch hochgehalten wird, um ein hegemoniales Streben geht es dabei explizit nicht, sondern um ein Bewahren und Verteidigen, ohne andere Kulturen dabei abzuwerten oder auszuschließen. Dass zum Abschluss des Konzerts die in Barcelona ansässige senegalesische Tanz- und Perkussiongruppe Karamalá breiten Raum einnahm und von dem überwiegend katalanischen Publikum genauso begeistert gefeiert wurde wie die ethnisch-katalanischen Künstler*innen zuvor, unterstreicht das. 

Gefeiert für seinen Auftritt wurde auch Jordi Cuixart, der aus seinem Schweizer Exil angereist war. Der Selfmade-Unternehmer und ehemalige Vorsitzende des Vereins Òmnium Cultural, der sich für die Förderung der katalanischen Sprache und der Kultur und dem Recht auf Selbstbestimmung einsetzt, saß nach dem Unabhängigkeitsreferendum vier Jahre im Gefängnis wegen des Vorwurfs der Rebellion. Mit der Durchführung des nach spanischem Recht illegalen Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober 2017 hatte Cuixart in seiner Funktion als Vereinsvorsitzender allerdings überhaupt nichts zu tun. Vor einer Verurteilung schützte ihn das aber nicht. Die Sicht von Amnesty International wird in Katalonien vielfach geteilt: Der Schuldspruch verstoße gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und eine friedliche Versammlung.

Cuixart, Vater zweier kleiner Kinder, sein zweiter Sohn mit dem Namen Camí (Weg) wurde während der Haft gezeugt und geboren, steht beim Kampf um die Unabhängigkeit inzwischen in der zweiten Reihe, weil der 47-Jährige mehr Zeit mit seinen Kindern sowie seiner Frau Txell Bonet verbringen will, einer Journalistin, die vom spanischen Staat nebst anderen mit der Pegasus-Software ausspioniert wurde. Resistir i vèncer (Widerstehen und siegen) war der Slogan, den Cuixart im Anschluss an sein Ständchen dem euphorisierten Publikum zurief.

Die katalanische Sprache und Kultur leben, aber sie stehen durchaus unter Druck. Dafür bedarf es gar keiner rechten Zentralregierung in Madrid, die schon am Jahresende die derzeitige Mitte-links-Regierung aus sozialdemokratischer PSOE und Linkspartei Podemos ablösen könnte. Sondern es reicht trotz des Vorrangs des Katalanischen im bilingualen Bildungssystem Kataloniens die normative Kraft des Faktischen. In den sozialen Medien beispielsweise ist Spanisch weitaus stärker verbreitet. Das Dilemma brachte Irma Farelo, eine 18 Jahre alte katalanisch singende Reggaeton-Künstlerin auf den Punkt: »Wenn ich mit meinen Freunden rede, ist in jedem dritten Satz ein Wort auf Spanisch. Das ist fatal, aber das ist die Art, wie wir reden.«

Nicht immer ist die Harmonie zwischen dem Katalanischen und Spanischen so ausgeprägt wie an Sant Jordi, wo zwar getrennt Bestsellerlisten für katalanisch und spanischsprachige Bücher geführt werden, aber alle vereint der Literatur und Kultur huldigen – und zwar in der Sprache, die einem beliebt. 

Der Autor nahm auf Einladung von Diplocat, dem Konsortium, das für Kataloniens öffentliche Diplomatie arbeitet, an einer Reise zum Sant Jordi Tag teil.

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