Spaß und Verantwortung: Domesti City

Der Mensch verlässt nicht gern sein Schneckenhaus und wenn dann, kommt er gleich wieder zurück

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Mensch liebt es in seinem Schneckenhaus.
Der Mensch liebt es in seinem Schneckenhaus.

In dem 1939 erschienenen Film »The Wizard of Oz« steht die Hauptfigur Dorothy, gespielt von Judy Garland, in einem fantastisch-animistischen Bühnenbild umgeben von singenden Pflanzen und sagt zu ihrem treuen Begleiter, ihrem Hund Toto, die bis heute geflügelten Worte: »I have a feeling that we are not in Kansas anymore« (Ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr in Kansas sind). Kurz zuvor ist sie mit ihrem vorstädtischen Holzhäuschen eine ganze Weile durch einen Wirbelsturm geflogen und landet im magischen Land Oz. Sie erlebt eine zauberhafte Heldinnenreise, bis sie, es bleibt ihr sehnlichster Wunsch, endlich in ihr vorstädtisches Bett bei Tante und Onkel in Kansas zurückkehrt, die ihr bestätigen, dass ihre große Reise nur ein Traum war.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

»We are not in Kansas anymore« ist seit dem »Zauberer von Oz« zu einem Satz geworden, der beispielhaft für das, mehr oder weniger bewusste, Übertreten von Konventionen steht. Der Zauberer initiiert einen Sturm, der die ungewollte Heldin in eine andere Dimension weht. Ein Übergriff, denn er entscheidet (ungefragt) für sie, dass gerade sie es würdig ist, die Provinz hinter sich zu lassen.

Und obwohl sich für sie dabei ein Bruch vollzieht, der erst einmal aufregend und vielversprechend ist, ist er andererseits auch beängstigend: Sie betritt einen Bereich, in dem sie sich (noch) nicht auskennt. »We are not in Kansas anymore« heißt, dass man es »geschafft« hat, einen kleinbürgerlichen Zusammenhang zu verlassen – in welchen magischen Teil des Universums es einen auch immer geweht hat – und was auch immer dort an Herausforderung und Überraschung auf einen zukommen wird.

Es heißt aber auch, dass man sein Schneckenhaus in den verschiedenen Bühnenbildern, in die es einen weht, immer mit sich trägt – und in das man sich, falls einem der Blick über den sogenannten Tellerrand zu viel wird, auch jederzeit wieder zurückziehen kann. Im Inneren des Puppenhauses ist es, ebenso wie im Auge des Wirbelsturmes, still. Aus Kansas übrig ist nicht nur Dorothys Haustier Toto, sondern auch das Haus selbst. Dorothy nimmt ihre »Domesti City« mit ins Zauberland – und entscheidet sich, trotz allem, am Ende wieder für den Rückzug nach Kansas. Selbstständig und nachdem sie die »große weite Welt« sozusagen ausgecheckt hat.

Dieses Zitat, das meistens aus dem Kontext gerissen besprochen wird, ist so »geflügelt«, dass meine Freundin aus Kansas mittlerweile immer sagt, sie käme aus dem »Mid West«, weil sie die Referenz nicht mehr hören kann – ein bißchen so wie deutsche Kids aus Bielefeld sofort die Augen verdrehen, wenn man sagt: »Bielefeld – das gibt es doch gar nicht«. Auffällig ist aber, dass sowohl Bielefeld als auch Kansas als Sammelbegriff für Orte herhalten müssen, die so unspezifisch sind, dass sie keine weiteren nennenswerten Charakteristika aufweisen, als eben generisch kleinbürgerlich zu sein. Und natürlich findet man in internationalen Kunstszenen schon immer und immer noch diverse Künstler*innen, die aus Orten kommen, die sie selbst als ebenso generisch empfinden und die sie vor allem hinter sich lassen wollen – zum Beispiel durch ihren Besuch von Kunsthochschulen im urbanen Raum. »Domesti City«: Eine Landflucht Richtung Oz – raus aus Kansas.

Das Domestische ist und bleibt in jedem Fall unheimlich ebenso wie es heimelig ist – und es beinhaltet, behaust, wie Antonie de Saint-Exupéry in »Der kleine Prinz« schreibt, Handlungen – genauer: Riten. Das heißt, Tagesabläufe, gesellschaftliche Verabredungen, unter die Menschen sich (gegenseitig) unterwerfen, um es miteinander auszuhalten oder sich streiten zu dürfen. Bonds werden, wie Saint-Exupéry schreibt, etabliert, ebenso wie Boundaries. Abweichungen entstehen nur im Verhältnis zu Regeln, Oz im Verhältnis zu Kansas.

Der Schriftsteller und Hobby-Pilot Antoine de Saint-Exupéry verunglückte 1944 mit seinem Flugzeug – die Ursachen des Absturzes werden nie geklärt. Saint-Exupéry sitzt allein in der kleinen Maschine – erst mehr als fünfzig Jahre später wird sein Silberarmband im Meer südlich von Marseille gefunden. Auf dem Armband sind sein Name und seine Adresse eingraviert: Fliegend verlässt er den Boden, wird allwissender Erzähler, gewinnt die Hoheit über das Narrativ – sein Haus auf dem Boden trägt er trotzdem, als Schriftzug, am Körper. Er trägt sein (Schnecken-)Haus also auch in der Luft mit sich.

Wenn Judy Garland also die geflügelten Worte sagt, Toto auf dem Arm, in einem Bühnenbild stehend, die Prospekte im Hintergrund deuten eine bergige Landschaft an, ist das nicht nur ein Satz, der ihre Überraschung ausdrücken soll, sondern auch ein Zeichen für den musikalischen Einsatz des, in den Büschen versteckten und als Pflanzen verkleideten Chores, der sich daraufhin langsam erhebt und »Somewhere over the Rainbow« anstimmt, woraufhin Judy verzückt ausruft: »We must be over the rainbow!«. »We are not in Kansas anymore« ist ein Aufruf, eine Einladung für das, was danach kommt.

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