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Schichtende bei »Hansen«
In Hamburg müssen immer mehr Einzelhändler ihre Läden dichtmachen. Warum ist das so?
Die Ankündigungen im Schaufenster des Büromarkts »Hansen« im Hamburger Stadtteil Sternschanze sind kaum zu übersehen: »50 Prozent auf alles« ist dort in großen Buchstaben zu lesen. Drinnen herrscht ein Betrieb wie vielleicht sonst nur um die Weihnachtszeit herum. Menschen aller Altersgruppen gucken, was sich kurz vor Toresschluss noch billig ergattern lässt: Kopierpaper in großen Stapeln oder in Spezialgröße auf Rollen von 90 Zentimetern Breite, diverse Scheren und Spezialcutter für ein paar Euro, Paketschnur, Klebeband, Füller und weiteres Schreibwerkzeug, Briefumschläge und Kartons in allen erdenklichen Größen. »Ich kenne den Laden schon ewig«, sagt ein Kunde, der seinen Einkaufskorb mit einem Stapel Einlegemappen für eine Hängeregistratur beladen hat. »Riesensortiment und dazu günstige Preise – wo findet man so was heutzutage noch?«
Der vor 92 Jahren gegründete Schreibwarenhandel mitten im heutigen Hamburger Partyviertel Sternschanze ist – war, muss man mittlerweile sagen – eine Institution im Stadtteil und darüber hinaus. Generationen von Schulkindern haben hier ihre Bleistifte, Hefte und Geodreiecke gekauft. Auch Geschäftsleute kamen regelmäßig vorbei, um Büromaterial zu besorgen. Mit rund 300 Quadratmetern Verkaufsfläche und einem Sortiment von 40 000 verschiedenen Artikeln war Hansen einer der letzten inhabergeführten Schreibwarenläden in Hamburg. Nun ist damit Schluss: Vor wenigen Wochen hat das Traditionsgeschäft seine Pforten für immer geschlossen.
»Es lohnt sich einfach nicht mehr«, sagt Geschäftsführer Christian von Jutrczenka. Die Corona-Pandemie habe vieles verändert, die Kunden hätten das Geld nicht mehr so locker sitzen. Große Teile des Geschäfts hätten sich ins Internet verlagert. Auch wenn Hansen einen eigenen Onlinehandel betrieben hat, reichte es vorne und hinten nicht. »Zum Schluss haben wir nicht mal mehr Azubis gefunden«, berichtet Jutrczenka.
So wie »Hansen« ist es in letzter Zeit offenbar vielen Einzelhändlern in Hamburg ergangen: Im unweit gelegenen Stadtviertel Ottensen haben innerhalb weniger Monate eine Bäckerei, eine Textilreinigung und ein Küchenladen zugemacht – alle in derselben Straße. Mal ist es die Online-Konkurrenz, die den Betreibern zu schaffen macht, mal steigende Mieten. Eine durchaus strittige Rolle spielen auch die Bestrebungen des Bezirks, einen Teil des Viertels für den Autoverkehr zu sperren. Die geplante Verkehrsberuhigung würde mehr Laufkundschaft anlocken, sagen die einen. Ohne die Möglichkeit, das Auto abzustellen, käme die Mehrzahl gar nicht erst vorbei, die anderen. Gastwirte sind besorgt, Nachtschwärmer könnten die autofreien Straßen nutzen, um dort lautstark abzufeiern. Das würde, so die Befürchtung, nicht nur Bewohner, sondern auch Kunden verärgern.
Buchläden haben dank der Buchpreisbindung im Allgemeinen weniger unter der Konkurrenz durch den Groß- und Internethandel zu leiden. Zudem können sie – anders als beispielsweise Amazon – mit persönlicher Beratung punkten. Antiquariate können von diesem Schutz jedoch nicht profitieren. »Seit der Jahrtausendwende nimmt der Publikumsverkehr stetig ab«, sagt Detlef Stechern, Inhaber eines vor 30 Jahren gegründeten Ladens für gebrauchte Druckerzeugnisse in Altona. Er kenne Studenten, die lesen Fontane nur noch online, berichtet der 67-Jährige, der selbst einen Magister für Germanistik an der Freien Universität Berlin abgeschlossen hat. »Als Medium hat das Buch an Bedeutung verloren. Und ein Großteil der Literatur ist inzwischen digital verfügbar.« Sein Geschäft, eine Fundgrube für Leseratten und Liebhaber antiquarischer Kleinode, nannte sich »Halkyone«, ein Begriff aus der griechischen Mythologie, der sich am besten mit »Glückliche Ruhe« übersetzen lässt. Allerdings ist es mit der Ruhe inzwischen vorbei, seitdem der Entrümpler da war und die Reste des Bestands zum Wertstoffhof brachte.
»Halkyone«, dessen Logo ein Eisvogel zierte, hat es nicht geschafft. Allerdings: An den Verkaufszahlen lag es gar nicht mal. Er hätte noch ewig so weitermachen können, erzählt Stechern. Und das, obwohl sich zuweilen nur ein einziger Kunde pro Tag in seinen Laden verirrt habe. »Hier steckt viel Idealismus drin«, sagt der Antiquar und deutet auf seine Bücherregale. Nein, Schuld war die Erbengemeinschaft, die das Gebäude nach dem Tod der bisherigen Vermieterin übernommen hatte und nun mit einem Mal den doppelten Preis verlangte. Statt gut 500 ab sofort über 1000 Euro. »Ich kam gerade aus dem Krankenhaus von einer Bandscheiben-OP, als mir das Schreiben ins Haus flatterte«, berichtet Stechern. »Nur« um 100 Prozent habe man erhöht – anstatt, wie eigentlich geplant, um 150 Prozent. »Mit den besten Genesungswünschen und alles Gute zum neuen Jahr.« Über den vermeintlich netten Gruß konnte sich Stechern nicht freuen. »Vom Menschlichen her ist es das Letzte«, sagt er.
Was die Erhöhung von Wohnmieten betrifft, gibt es gesetzliche Beschränkungen – für Gewerbe gilt das nicht. Die Altonaer Linke-Fraktion hat aus dem Grund einen Antrag in die örtliche Bezirksversammlung eingebracht, in dem es um den Schutz inhabergeführter Betriebe geht. Über einen sehr langen Zeitraum sei ein vielfältiges Angebot kleiner Ladengeschäfte prägend für gewisse Quartiere gewesen, heißt es dort. »Diese Quartiere drohen, ihren Charme zu verlieren, wenn immer mehr Kleingewerbetreibende ihre Geschäftstätigkeit einstellen müssen.« Aktuell fordert die Partei ein Konzept zur Bestandspflege der betroffenen Geschäfte. Das Bezirksamt vertrete aber die Auffassung, dass eine Einflussnahme auf die von den Grundeigentümern festgesetzte Gewerbemiete keine staatliche Aufgabe sei, sagt der Linke-Abgeordnete Karsten Strasser. Dass aber alles über den Markt gesteuert werde, sei »politisch nicht alternativlos«, meint er und weist darauf hin, dass eine direkte gesetzliche Preisregulierung durchaus ein anerkanntes Instrument sei, um »unangemessene gesellschaftliche Folgen abzuwenden«. Die Linke fordert daher eine Mietpreisbremse »für bezirkliche Quartiere mit angespannter Entwicklung«.
In Hamburg haben Gewerbetreibende bereits jetzt die Möglichkeit, die bezirkliche Wirtschaftsberatung in Anspruch zu nehmen. Hierbei werden Finanzierungsfragen, Fördermöglichkeiten oder die Suche nach geeigneten Gewerbeflächen und -immobilien besprochen. Nach Auskunft des Bezirks Altona gibt es durchschnittlich drei Anfragen pro Woche. Linke-Mann Strasser wünscht sich, dass diese Beratungen nicht nur auf Anfrage, sondern auch regelhaft stattfinden – etwa in Form einer Sprechstunde. »Ladensterben ist für mich vergleichbar mit Flurbereinigung«, sagt der Lokalpolitiker. »Alles wird einseitig und langweilig. Das Flair geht verloren.« Darüber hinaus spielt für Strasser der Aspekt der Gentrifizierung eine große Rolle. »Wenn zum Beispiel größere Gastrobetriebe oder Restaurantketten im Viertel höhere Mieten zahlen können, dann haben die Kleinen oft das Nachsehen.« Mit ihrer Forderung nach einer Preisbremse für Gewerbemieten betritt die Linke Neuland. »Das ist uns klar«, sagt Strasser. »Aber in anderen Metropolen wird so etwas auch diskutiert.«
Nach Auskunft des Handelsverbands Deutschland (HDE), dem größten Interessensvertreter des hiesigen Einzelhandels, hat die Bundesrepublik während der Corona-Pandemie rund 11 000 Geschäfte pro Jahr verloren. Für 2023 rechnet der Verband mit einem Minus von 9000 Geschäften – immer noch deutlich mehr als vor der Pandemie, als der Wert laut Berechnung bei jährlich 5000 Läden lag. Betroffen sei vor allem der kleinbetriebliche Nonfood-Fachhandel. »Angesichts der Zahlen der letzten Jahre müssen in allen Innenstädten und bei der Politik alle Alarmglocken läuten«, sagt HDE-Präsident Alexander von Preen. Der Handel sei nicht nur Versorger der Bevölkerung, sondern zeichne sich auch durch sein vielfältiges gesellschaftliches Engagement vor Ort aus. »Stirbt der Handel, stirbt die Stadt«, prophezeit von Preen, der als Gegenmaßnahme eine »Gründungsoffensive« auf Bundesebene fordert. Ganz oben auf der Prioritätenliste müssten »unbürokratische und schnelle Genehmigungsprozesse für Umbauten und Umwidmungen« stehen, sagt der HDE-Präsident. »Neuansiedlungen und Gründungen brauchen optimale Bedingungen: Beispielsweise sollte es flächendeckend Ansiedlungsmanagerinnen und -manager geben«, so sein Vorschlag.
Die Großen fressen die Kleinen, wer nicht mehr mitziehen kann, bleibt auf der Strecke: Dass dies nicht zwangsläufig so sein muss, beweist das Hamburger Werkzeug- und Haushaltsgeschäft »Ferd. Schüllenbach«, das seit sage und schreibe 168 Jahren auf St. Pauli zu Hause ist – nur einen Steinwurf vom Millerntorstadion entfernt. Zu handwerkerfreundlichen Öffnungszeiten – wochentags zwischen 8 und 18 Uhr, samstags von 10 bis 14 Uhr – verkauft der zweifellos älteste Eisenwarenhandel der Stadt Werkzeuge und Heimwerkerbedarf jeglicher Art – vom Drahtstift bis zur Bohrmaschine. »Angst vor der Baumarkt-Konkurrenz habe ich überhaupt keine«, sagt Clemens Flagge, der das Geschäft zusammen mit seiner Frau Aenne in fünfter Generation führt. Dem Traditionsgeschäft geht es wie den Buchläden: »Beratung ist unsere Stärke«, sagt Flagge. »Auch wenn jemand nur eine einzelne Schraube kauft, nehmen wir uns für ihn Zeit.« Billigware habe bei ihm nichts zu suchen. »Ich kaufe bei meinen Händlern nur europäische Fabrikate, bei denen ich genau weiß, wo und wie man die reparieren lassen kann.« Fünf Mitarbeiter hat das Geschäft, darunter Sohn Alexander, der den Betrieb übernehmen soll, sobald sich die Eltern – beide Mitte 70 – irgendwann zu alt fühlen sollten. »Aber so lange die Knochen halten, machen wir weiter«, sagt Clemens Flagge.
Auch Antiquar Stechern will im Geschäft bleiben, als Onlinehandel von Zuhause aus. Seine wertvollsten Bücher hat er natürlich nicht einfach so weggegeben. Dazu zählen die »Graphiken von Hans Arp« in einer Beleg- und Schenkausgabe auf Büttenpapier (Wert: 3000 Euro), der zweibändige Roman »Perrudja« von Hans Henny Jahnn in einem Widmungsexemplar von 1929 (1800 Euro) und ein doppelseitiger Brief aus dem Jahr 1890 mit dem Titel: »Theodor Fontane bedankt sich für ein Fläschchen ›Danziger Goldwasser‹« (3800 Euro). Zu den Kuriositäten der Sammlung gehört zweifelsohne ein Autograf der »Tintenklecksographien« von Peter Rühmkorf. Der 2008 verstorbene Schriftsteller war früher oft zu Besuch bei Stechern, um – wie sich der Inhaber erinnert – gemeinsam »ein Schlückchen zu nehmen« und über Gott und die Welt zu reden. Die »Klecksographien« verwendete Rühmkorf später für seinen Gedichtband »Kleine Fleckenkunde«. In dessen Einband übrigens nur ein einziger Satz steht, ein Rühmkorfscher Schüttelreim: »Was einer in Etappen kleckst/braucht weiter keinen Klappentext.«
Stechern macht weiter, aber das Wesentliche geht mit dem Geschäfts-Aus von »Halkyone« verloren: Die Möglichkeit für den Kunden, ein Buch in die Hand zu nehmen und darin zu blättern, die persönlichen Gespräche, die gelebte Bücherliebe. Und online wird auch keiner wie Rühmkorf mehr zu Besuch kommen, um mit dem Antiquar ein Glas Wein zu trinken.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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