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Jean-Luc Romero-Michel: »Sterbehilfe ist ein Menschenrecht«

Frankreich will das selbstbestimmte Lebensende neu regeln. Jean-Luc Romero-Michel kämpft dafür seit langem

  • Ralf Klingsieck
  • Lesedauer: 9 Min.

Sie sind seit vielen Jahren in der Vereinigung für das Recht auf Sterben in Würde aktiv. Was hat Sie motiviert, sich für dieses Anliegen zu engagieren?

Ich habe in jungen Jahren den Ausbruch von Aids erlebt und musste mitansehen, wie mein damaliger Partner qualvoll gestorben ist. Auf Druck der Familie haben die Ärzte alles Mögliche mit ihm versucht und doch nur seine Qualen verlängert. Sie haben ihm selbst Morphium verweigert, mit dem Argument, das beschleunige seinen Tod und sei daher verboten. Dabei wollte er nichts anderes, als sterben, schnell und mit so wenig Schmerzen wie möglich. In den folgenden Jahren habe ich noch viele Freunde sterben sehen und meist unter unsäglichen Qualen. Das hat mich bewogen, mich für ein selbstbestimmtes Sterben zu engagieren. Natürlich will jeder Mensch leben und dies so lange wie möglich, aber menschenwürdig. Wenn die Krankheit das nicht mehr zulässt, sollte man die Wahl haben, zu entscheiden, ob man auch unter diesen Bedingungen weiterleben oder lieber sterben will. Diese Freiheit muss jeder haben, da darf ihn keine Religion und keine Moral bevormunden.

Interview

Noch vor der parlamentarischen Sommerpause will Präsident Emmanuel Macron einen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe vorlegen. Er soll sich im Wesentlichen auf die Vorschläge eines Bürgerkonvents stützen, das sich mehrere Monate mit diesem brisanten Thema beschäftigt hat. nd-Korrespondent Ralf Klingsieck sprach darüber mit Jean-Luc Romero-Michel, stellvertretender Pariser Bürgermeister für Integration und den Kampf gegen Diskriminierung sowie dem Ehrenpräsidenten der Vereinigung für das Recht auf Sterben in Würde.

Noch vor der parlamentarischen Sommerpause will Präsident Emmanuel Macron ef Klin

Was hat sich seitdem auf diesem Gebiet geändert?

Leider viel zu wenig. Nur ein Beispiel: Ich habe 2020 Alain Cocq in die Schweiz begleitet, wo er endlich sterben konnte, wie er wollte. Er litt 30 Jahre lang an einer schweren neurodegenerativen Krankheit, die ihn in den letzten Jahren immer mehr eingeschränkt hat und ihm qualvolle Schmerzen bereitete, die kein Medikament lindern konnte. Doch die Ärzte lehnten ab, ihm seinen Wunsch zu erfüllen und ihn zu erlösen. Das seit 2016 geltende Gesetz Claeys-Leonetti erlaubt eine palliative Sedierung, also Ruhigstellung durch Medikamente, um das Bewusstsein sterbender Patienten zu dämpfen und Schmerzen oder Angst auszuschalten. Bedingung ist jedoch, dass die medizinische Prognose einen »kurzfristigen« Tod des Patienten absehen lässt. Das war bei Alain Cocq nicht der Fall. Er hätte vielleicht noch Monate leben und leiden müssen, und dies bei klarem Bewusstsein. So geht es vielen, denn dieses Gesetz, auf das sich die Politiker seit Jahren stolz berufen, trifft nur auf einen Bruchteil der Schwerkranken zu, die sterben wollen.

In Umfragen wird die Sterbehilfe von rund 90 Prozent der Franzosen befürwortet und selbst von 70 Prozent der Katholiken. Warum ist es in Frankreich so schwer, in dieser Frage voranzukommen? Ist es der Einfluss der Kirche, die so etwas prinzipiell ablehnt, weil Leiden »gottgewollt« ist und daher ertragen werden muss bis zum vorbestimmten Tag des Todes?

So ist es leider. Es ist schon erstaunlich, wie häufig Kirchenvertreter in Kommissionen oder anderen Gremien vertreten sind, die Entscheidungen der Regierung vorbereiten oder diese zumindest beraten. Die Position von Präsident Emmanuel Macron ist auch nicht klar, denn einerseits hat er die gesetzliche Regelung der Sterbehilfe zu einem Schwerpunktthema seiner zweiten Amtszeit erklärt, andererseits will er offensichtlich die Kirchenhierarchie nicht verprellen.

Kommt der Widerstand nicht auch von den Medizinern?

Ja, aber da gibt es Bewegung und Fortschritte. Die Politiker haben sich lange und bis in die Gegenwart hinein davor gedrückt, dieses heiße Eisen anzupacken und haben es an die Mediziner delegiert. Dabei ist das selbstbestimmte Lebensende nicht nur ein medizinisches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches, das Moral und Ethik betrifft und das als ein Menschenrecht begriffen werden sollte. Aber die drei Gesetze, die dazu in den vergangenen 15 Jahren erlassen wurden, waren immer nur von Medizinern für Mediziner konzipiert. Doch von denen waren und sind viele gegen aktive Sterbehilfe, weil sie darin einen Verstoß gegen den Hippokratischen Eid sehen, in dem es heißt: »Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten.« Allerdings heißt es dort weiter: »Auch werde ich nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben.« Das ist selbst für die meisten Ärzte längst überholt, und so kommt es bestimmt auch mit der Sterbehilfe.

Wie könnte eine Regelung aussehen?

Das Problem ließe sich leicht lösen mit einer Klausel im Gesetz, wonach jeder Arzt aus Gewissensgründen die Mitwirkung verweigern kann, wie das schon heute beim Schwangerschaftsabbruch der Fall ist. Daran soll sich nichts ändern, nur dass für den Arzt ein neues Recht hinzukommen soll: Patienten, die das wünschen, beim Sterben in Würde beizustehen. Da helfen die Erfahrungen beispielsweise von Ärzten in Belgien, die berichten, wie befreiend es für sie sei, schwer leidenden Patienten ihren Wunsch nach einem Ende der Qualen erfüllen zu können. Sie berichten auch, dass es manchmal für den Patienten schon eine Hilfe ist, zu wissen, dass sie jederzeit um ihr Ende bitten können, auch wenn sie diese Möglichkeit dann vielleicht doch nicht in Anspruch nehmen. Es ist auch zu beobachten, dass die Zahl der Mediziner, die bei Patienten mit dem Wunsch nach Sterbehilfe keine freie Willensentscheidung anerkennen wollen, weil diese durch die Schmerzen beeinträchtigt sein könnte, glücklicherweise immer weiter zurückgeht.

Haben die Erfahrungen mit der Corona-Epidemie zu Bewegung auf diesem Gebiet beigetragen?

Zweifellos, denn in dieser Zeit sahen sich mehr Menschen – und nicht nur von Berufs wegen – stärker mit der Frage von Leben und Tod konfrontiert. Die Kräfteverhältnisse sind heute anders als vor einigen Jahren. Die Mehrheit des Parlaments ist für Sterbehilfe, einschließlich der Fraktion der Regierungspartei. Der Nationale Sozial- und Umweltrat hat sich dafür ausgesprochen und auch der Nationale Ethikrat, der über viele Jahre dagegen war, hat kürzlich grünes Licht gegeben. Widerstand kommt fast nur noch von den konservativsten Politikern und Bürgern.

Ende 2022 hat Präsident Macron ein Bürgerkonvent zur Frage der Sterbehilfe eingesetzt, für das 185 Franzosen per Los ausgewählt wurden. Was halten Sie davon?

Anfangs war ich skeptisch, aber ich habe mich überzeugt, dass das eine gute Sache ist. Die Menschen, die da über vier Monate hinweg an insgesamt neun Wochenenden zusammengekommen sind, haben viele Experten angehört und leidenschaftlich miteinander diskutiert. Das Ergebnis ist ein Bericht, über den sie Anfang April abgestimmt und den sie dann Präsident Macron übergeben haben. Dabei sprachen sich 75 Prozent für aktive Sterbehilfe aus. Bemerkenswert finde ich auch, dass sich am Schluss diejenigen, die dagegen gestimmt haben, dafür bedankten, wie respektvoll ihre Vorbehalte angehört und akzeptiert wurden.

Aber muss man nicht skeptisch sein angesichts der Erfahrungen mit dem Bürgerkonvent zum Klimawandel, wo vor zwei Jahren 150 Vorschläge vorgelegt wurden, die Macron fast alle begrüßt und umzusetzen versprochen hatte, was dann aber nur bei einigen wenigen wirklich erfolgte?

Die Lage ist heute anders, weil Macron nicht mehr die absolute Mehrheit im Parlament hat und das Thema jetzt die breite Öffentlichkeit bewegt – weil es um etwas geht, was jeden von uns einmal betreffen kann. Wenn Macron das Problem nicht selbst löst, riskiert er, dass es ihm von der linken Opposition aus der Hand genommen und zusammen mit der Mehrheit der rechten Opposition und selbst seiner eigenen Fraktion zu Ende gebracht wird. Dann wäre er der moralische Verlierer. Was mir Angst macht, ist die Gefahr, dass Macron weiter laviert und Kompromisse sucht, bei denen ein Gesetzestext herauskommt, der wieder nur minimale Verbesserungen bringt. Deshalb müssen wir weiter die Öffentlichkeit mobilisieren und so Druck ausüben.

Gegner der Sterbehilfe führen Palliativmedizin als Alternative an.

Das ist kein Gegensatz, sondern beides ergänzt einander. Die Realitäten hinken allerdings weit hinter dem Bedarf hinterher. In 27 von 100 Departements gibt es kein Zentrum für Palliativmedizin, und wo es eins gibt, ist die Kapazität meist unzureichend, sodass bestenfalls zwei von drei Kranken, die das beträfe, aufgenommen werden können. Österreich beispielsweise hat sieben Betten pro 100 000 Einwohner und Frankreich nur 1,8. Wir sind in Westeuropa das Schlusslicht. Außerdem gibt es viel zu wenige mobile Teams für Palliativmedizin. Dabei wollen die meisten Patienten zu Hause sterben, aber nur 25 Prozent können das, während 75 Prozent ihr Leben im Krankenhaus beenden müssen, und nur zu oft auf einer Trage im Korridor. In den Niederlanden und in Belgien ist das Verhältnis umgekehrt.

Warum ist das nicht auch in Frankreich möglich?

Viele von denen, die ausschließlich auf Palliativmedizin setzen, warnen, das Recht auf Sterbehilfe würde die Gesellschaft von Grund auf negativ verändern und die Achtung vor dem Leben und damit auch vor dem Tod zerstören. Das halte ich für Unsinn. In den Niederlanden und in Belgien gibt es Sterbehilfe seit 20 Jahren. In den Niederlanden wird sie heute von 4,5 Prozent der Patienten in Anspruch genommen und in Belgien von 2,5 Prozent.

Ist nicht auch die Patientenverfügung in Frankreich immer noch ein Problem?

Leider, denn hier kann zwar der Patient vorab seine Entscheidungen festhalten, aber der Arzt ist nur formal daran gebunden. Er kann sich ungestraft darüber hinwegsetzen, wenn er das für »medizinisch geboten« ansieht, und das lässt sich sehr weit auslegen. Selbst die gesetzlich erlaubte Sedierung kann man sehr unterschiedlich interpretieren und anwenden. So dauert sie bei dem einen Arzt nur wenige Stunden, während sie sich bei einem anderen über Wochen hinzieht. In Belgien wurde vor 20 Jahren zum selben Zeitpunkt ein Gesetz über die Rechte der Patienten, ein zweites über Sterbehilfe und ein drittes über Palliativmedizin verabschiedet. Das gehört zusammen, damit wurden gute Erfahrungen erzielt und so sollten auch wir es machen.

Gegner der Sterbehilfe warnen, dass manche Kranke aus ökonomischen Gründen vorzeitig sterben müssen oder dass Angehörige sie bedrängen und unter Druck setzen könnten, sich für eine Sterbehilfe zu entscheiden. Sehen Sie darin eine Gefahr?

So etwas kann man nie ganz ausschließen. Selbst Leonetti, auf den das Gesetz von 2016 zurückgeht und der früher Arzt war, hat in einem Interview eingeräumt, dass er schon bei aussichtslosen Fällen auf der Intensivstation das Beatmungsgerät abgeschaltet hat, »um Betten freizumachen«. Hier muss sich zeigen, wie tief verwurzelt die Brüderlichkeit ist, auf der zusammen mit der Freiheit und der Gleichheit unsere Republik beruht. Wir wollen solidarisches Sterben und kein einsames. Darum sind wir ja auch gegen das Sterbehilfemodell des US-Staates Oregon, wo der Arzt ein letales Medikament verschreibt und den Patienten zum Einnehmen nach Hause schickt. Wir sind für Sterbehilfe und Sterbebegleitung, wahlweise durch den Arzt, Verwandte oder Freunde. Wie alle Menschen wollen die Franzosen leben, und sie träumen nicht von Sterbehilfe, aber sie wollen die Wahl haben und ohne Bevormundung selbst über ihr Ende entscheiden können.

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