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- Die Stimme der Vernunft
Grüne Hochstapelei
Warum eigentlich wurde die heutige Regierungspartei überhaupt gewählt, fragt sich Leo Fischer
700 Jurist*innen und Anwält*innen schlagen Alarm. In einem Offenen Brief an die Bundesregierung warnen sie vor den »massivsten Verschärfungen des Flüchtlingsrechts seit Jahrzehnten«, vor einem »Paradigmenwechsel«. Die Bundesregierung demontiere das Asylverfahren, um es durch Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen zu ersetzen. Statuiert werde ein Zustand der Rechtlosigkeit, der mit der Einrichtung von Internierungslagern einhergehe. Im gleichen Zuge werden auf nationaler Ebene Ausreisezentren geschaffen, Abschiebehaft ausgeweitet, die Liste sicherer Herkunftsstaaten verlängert. Statt dem Leid an den Außengrenzen abzuhelfen, wird es institutionalisiert. Keiner Kommune, keinem Amt ist mit diesen Gesetzen geholfen. Die Schutzsuchenden selber werden zum Problem erklärt: in rechtsfreien Räumen von einer kafkaesken Bürokrate abgewickelt, ohne Möglichkeit, einen ordentlichen Rechtsweg einzuschlagen. Der Hinweis auf den Koalitionsvertrag ist fast überflüssig: Er sieht das komplette Gegenteil der geplanten Maßnahmen vor.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegen gelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.
Nicht nur hier dürften sich die Wähler*innen der Grünen die Augen reiben, wenn sie nicht eh schon im politischen Tiefschlaf sind. Wofür wurden sie überhaupt gewählt? Warum sind sie überhaupt an der Regierung? Eine AfD-Regierung könnte kein menschenfeindlicheres Asylrecht aushecken. All die grünen Positionierungen gegen Rassismus, für den Schutz von Geflüchteten, all die Kämpfe für ein humaneres Recht sind im Nachhinein als blankes Wahlkampfgetöse zu werten. Das passt zum Umgang mit der Letzten Generation: Keine AfD-Regierung hätte der seit den 68ern beispiellosen Kriminalisierungskampagne besser zuarbeiten können. Der Unterschied: Die AfD würde dabei immerhin noch den Willen ihrer odiosen Wähler*innen ausführen. Der Wahlerfolg der Grünen hingegen, der im Wesentlichen auf die Klimabewegung, in geringerem Maße auf den Geflüchtetenschutz zurückzuführen ist, ist jetzt nicht viel besser als Wahlbetrug; es ist reine Hochstapelei.
Redet man mit hochrangigen Grünen, hört man das, was man jahrzehntelang von der SPD gehört hat: Pragmatismus, Sachzwang, EU-Partner, das ganze Blabla. Das Personal der zweitstärksten Partei des mächtigsten EU-Landes stellt sich als eine Gruppe armer Hascherl dar. Neu sind noch verdruckste Verweise auf »die Verwaltung«: in den Ämtern herrsche ein Geist, der es schwer mache, wirklich Fortschritte zu erzielen. Herrje. Es gibt wohl nichts, was mehr Mitleid erzeugt als ein Minister, der sich vor den eigenen Verwaltungsbeamten fürchtet. Das werden sicher auch die Schutzsuchenden verstehen.
Man müsste einmal nachforschen, warum die Leute eigentlich noch an die Macht wollen, wenn sie noch in höchsten Ämtern davon ausgehen, keine zu haben. Wenn man an jeder Stelle die AfD-Positionen als die Norm ansieht, von der man nur noch in Details abweichen kann, dann sollte man die Konsequenz ziehen und sich der AfD anschließen. Denn um die Details der Politik einer Partei zu ändern, muss man in diese Partei eintreten – und sich nicht mit großem Getöse von ihr distanzieren.
Doch den Zuständigen kommt ihre Politik nicht als Verrat vor. Sie halten sie für einen Kompromiss, der jederzeit aufgekündigt werden kann. Die Lehre der vergangenen Jahre ist jedoch, dass Enthumanisierungen, einmal institutionalisiert, in ihrer kulturellen Nachwirkungen nie wieder rückgängig gemacht werden können. Keine Umbenennung, keine Reform kann Hartz IV, die Verachtung der Unterschicht, aus der gelebten politischen Kultur des Landes heraustexten. Und ein Europa, das als Festung konstruiert wird, wird schnell nach innen genauso grausam auftreten wie nach außen.
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