Zerfall Jugoslawiens: Verdächtige Gedächtnislücken

Entgegen vieler Darstellungen ist der Ukraine-Krieg nicht die erste kriegerische Auseinandersetzung in Europa seit 1945. Mit dem forcierten Zerfall Jugoslawiens beschäftigt sich ein Buch von Norbert Mappes-Niediek

  • Larissa Schober
  • Lesedauer: 7 Min.

Als der Ukraine-Krieg im Februar 2022 begann, war plötzlich die Rede vom »ersten Krieg in Europa seit 1945«. So schrieb etwa Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung: »Nach 77 Jahren ohne Krieg … sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt.« Mit solchen Aussagen wurde leichthändig der blutige Zerfalls Jugoslawien in den 1990er-Jahren unter den Teppich gekehrt – ein Konflikt, der mindestens 135 000 Menschen das Leben kostete und in dessen Verlauf ein Genozid auf europäischem Boden verübt wurde. Diese Leerstelle ist erschreckend, aber nicht unbedingt verwunderlich. Vor dem russischen Angriffskrieg interessiert sich die deutsche Öffentlichkeit kaum für Osteuropa, ihr Osteuropabild ist weiterhin geprägt von Ignoranz. Mit seinem neuen Buch »Krieg in Europa« schreibt der Journalist Norbert Mappes-Niediek gegen diese Ignoranz an und legt eine detaillierte Chronik der Zerfallskriege vor.

Chronologie der verdrängten Kriege

In sieben Kapiteln widmet er sich chronologisch den Kriegen im – dann bald ehemaligen – Jugoslawien, vom verhältnismäßig unblutigen 10-Tage-Krieg in Slowenien 1991 über den Kroatien-Krieg ein Jahr später bis zum Bosnienkrieg 1992 bis 1995, dem brutalsten und längsten dieser Kriege, den der Autor mit drei Kapiteln auch am ausführlichsten behandelt. Das Buch endet mit dem Kosovo-Krieg 1999 und einer kurzen Schlussbetrachtung. Die Auseinandersetzungen in Mazedonien, die erst 2001 mit dem Abkommen von Ohrid beendet wurden, werden nicht behandelt; sie gelten, anders als die vier vorangegangenen Konflikte, aus politikwissenschaftlicher Sicht auch nicht als Krieg.

»Krieg in Europa« ist ein überfälliges Buch: Auf Deutsch sind verhältnismäßig wenige Auseinandersetzungen mit den Zerfallskriegen im ehemaligen Jugoslawien erschienen, noch weniger solche, die nicht in die eine oder andere Richtung Fakten verdrehen, um Partei für eine Seite zu ergreifen. Gleichzeitig ist in Deutschland wenig Wissen über die Region insgesamt und über diesen blutigsten Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg vorhanden. Und das, obwohl etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland familiäre Bindungen in die Region haben und mit Slowenien und Kroatien zwei der damaligen Kriegsparteien heute EU-Mitglieder sind.

Wer diese Wissenslücke beheben möchte, sollte dieses Buch lesen. Mappes-Niediek weiß, wovon er schreibt. Er arbeitete lange als Korrespondent auf dem Balkan, spricht serbokroatisch und war 1994/95 Berater von Yasushi Akashi, dem damaligen UN-Sonderbeauftragten für das ehemalige Jugoslawien. Er hütet sich vor tendenziösen Erzählungen und ruht sich gleichzeitig nicht auf der Formulierung »Es ist kompliziert« aus, die besonders in Bezug zu Bosnien inflationär gebraucht wird – manchmal gerade, um sich eben nicht damit zu beschäftigen. Vielmehr versucht Mappes-Niediek zu entschlüsseln, warum es kompliziert ist.

Jugoslawien war eben kein ›Völkergefängnis‹ und in den Kriegen brach sich auch kein uralter Hass Bahn, wie manche im Westen bis heute gerne glauben. Für die Fragmentierung entlang ethnischer Linien gab es viel mehr handfeste politische Gründe, die in der Konstruktion des jugoslawischen Staates zu suchen sind. Gerade der Wunsch, ein ethnisches Gleichgewicht zu schaffen und Minderheiten zu berücksichtigen, führte am Ende dazu, dass sämtliche Lebens- und vor allem Wirtschaftsbereiche in Jugoslawien ethnisch quotiert waren: Arbeitsplätze und gesellschaftlicher Einfluss hingen am »ethnischen Gleichgewicht«, die potentiellen Bruchlinien waren lange vor den Kriegen der 1990er-Jahre vorgezeichnet.

Eiskalte Staatsinteressen

Das Buch ist dort besonders spannend, wo Mappes-Niediek die Motivationen der einzelnen Akteur*innen nachzeichnet und dabei mit einigen Mythen aufräumt. So fußte die Beurteilung des Konflikts von westlicher Seite vor der Anerkennung Kroatien und Sloweniens auf einer grundlegenden Fehleinschätzung, die Deutungsmuster aus dem Kalten Krieg sowie nationalstaatliches Denken auf das zerfallende Jugoslawien anlegte: »Drei Motive – die Analogie zum Kalten Krieg, die kulturelle Deutung, die Neigung zum Nationalstaat – beherrschten nicht nur in Deutschland, sondern in unterschiedlichem Maße auch in den anderen Ländern der westlichen Welt die Öffentlichkeit«, so Mappes-Niediek. Diese Deutungen machten blind für die Gefahren, die ein Zerfall Jugoslawiens und eine rasche Anerkennung Sloweniens und Kroatien barg. Im Falle Deutschlands wurde diese auch bewusst ignoriert.

Mappes-Niediek zieht Dokumente heran, die erst seit Kurzem zugänglich sind, wie etwa ein Briefwechsel zwischen der Botschaft in Belgrad, dem Generalkonsulat in Zagreb und dem Auswärtigen Abend in Bonn. Diese offenbaren keine Intention, aber doch eine erschreckende Ignoranz der damaligen Verantwortlichen gegenüber der Lage in Jugoslawien. So warnte Hansjörg Eiff, der damalige deutsche Botschafter in Belgrad, schon früh vor einer raschen Anerkennung Kroatiens. Auf dem Höhepunkt der Debatte schrieb er dem Auswärtigen Amt: »Sollte es zu einer internationalen Anerkennung Kroatiens kommen, bliebe der muslimisch-kroatischen Mehrheit [in Bosnien] kaum ein anderer Ausweg, als Jugoslawien zu verlassen. Spätestens dann würde der Bürgerkrieg auch in Bosnien-Herzegowina ausbrechen.« Der deutsche Generalkonsul in Zagreb hingegen vertrat »mit viel Meinung und wenig Kenntnissen die Linie des dortigen Präsidenten Tudjman«, so Mappes-Niediek. Zwischen diesen beiden Polen changierte die Auseinandersetzung im Auswärtigen Amt. Dabei spielte Jugoslawien lange eine untergeordnete Rolle in der Politik des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP). Erst als in Slowenien geschossen wurde, schenkte er dem Geschehen mehr Aufmerksamkeit.

In geradezu friedensbewegter Tradition stellte Genscher dann nicht die territoriale Integrität Jugoslawiens in den Vordergrund, sondern den Verzicht auf Gewalt. Im Verlauf des Konfliktes wurde die Anerkennung Kroatiens schließlich zum Kristallisationspunkt der Außenpolitik des gerade wiedervereinigten Deutschlands. Mappes-Niediek beschreibt das Engagement als »Ersatzhandlung«, man habe Bedeutung haben wollen und in anderen Lösungsszenarien hätte es diese für Deutschland nicht gegeben. So habe sich die Bundesrepublik schließlich in der EG gegen Frankreich, die Niederlande und Großbritannien durchgesetzt – mit den bekannten brutalen Folgen.

Auch die Reaktion der USA, vor allem im Bosnien- und später im Kosovo-Krieg, hatte mehr mit dem amerikanischen Selbstverständnis und dem Wandel in der internationalen Politik jener Zeit zu tun als mit der Situation vor Ort. Den damaligen serbischen Präsident Slobodan Milošević wiederum zeichnet Mappes-Niediek weder als teuflisch-genialen Regisseur des Geschehens, noch als fanatischen Nationalist oder armes Opfer ›der Amerikaner‹. Vielmehr beschreibt er einen flexiblen Machtmenschen, der vor allem eins war: skrupellos. Damit kommt er der Wahrheit vermutlich näher als viele der gängigen Zuschreibungen.

Ähnlich unaufgeregt und deshalb umso lesenswerter führt das Buch auch ein grundsätzliches Dilemma diplomatischer Verhandlungen vor Augen: Neutrale Vermittlung existiert nicht, auch vermittelnde Staaten bringen stets ihr eigenes Interesse mit. Und gerade in ethnisierten Konflikten widersprechen sich Moral, Recht und unterschiedliche Rechtsnormen häufig. So kollidiert etwa das Nichteinmischungsgebot der UN-Charta mit dem Schutz von Menschenrechten, wenn ein Staat gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. Manchmal ist es schon eine Herausforderung, überhaupt zu definieren, welche Rechtslage gilt. »Im Bosnienkrieg hatten die einen die Macht, die anderen das Recht auf ihrer Seite. Die Konstellation stellte die Vermittler vor eine unlösbare Aufgabe. Galt es, eine Aggression gegen einen selbstständigen Staat abzuwehren? Oder handelte es sich um einen Bürgerkrieg, geführt von drei ethnischen Gruppen?«, schreibt Mappes Niediek. Was in der Regel als angeblich neutrale Vermittlung verstanden wird, nämlich den gleichen Abstand zu allen Seiten zu halten, bedeutete im Bosnienkrieg eine Bevorteilung der mächtigeren Seite, in diesem Fall der serbischen.

Genaue Recherchen – und einige Fehler

»Krieg in Europa« ist ein so kenntnisreiches und gut recherchiertes Buch über die jugoslawischen Zerfallskriege, dass man dem Autor auch so etwas wie die unkritische Verwendung des Begriffs Heimatland und manche Ungenauigkeiten verzeiht; so wurden etwa während des Genozids in Srebrenica auch mindestens 570 Frauen und Mädchen und nicht ausschließlich Männer ermordet. Mit dieser Unterschlagung ist Mappes-Niediek leider nicht allein, sie dominiert die Berichterstattung über den Genozid und macht die weiblichen Opfer unsichtbar. An manchen Stellen irritiert der teilweise reportagenartige Stil des Buches: Jedes Kapitel beginnt mit einer Miniatur aus dem Krieg. Dieses atmosphärische Schreiben kann man anschaulich finden – oder einem brutalen Krieg unangemessen. Sätze wie »Die Anführer der bosnischen Serben in ihrer traurigen Wohngemeinschaft« dienen jedenfalls mehr der Unterhaltung als dem Erkenntnisgewinn. Zudem machen die Miniaturen die ohnehin schon komplexe Geschichte der Kriege noch unübersichtlicher; die Dramaturgie der Erzählung geht so an manchen Stellen auf Kosten von Nüchternheit und Verständlichkeit.

Dennoch ist »Krieg in Europa« empfehlenswert, dessen Text durch Karten, eine Chronik und einen langen Fußnotenapparat inklusive Literaturempfehlungen ergänzt wird. Diese Nachprüfbarkeit ist wichtig, denn auch über zwanzig Jahre nach dem Ende des letzten Zerfallskrieges sind viele Aspekte der Kriege noch umstritten und die Fake-News-Dichte ist hoch. Man denke nur an die unsägliche Debatte um die Nobelpreisverleihung an Peter Handke. Am Ende geht es in »Krieg in Europa« dann doch noch um den Ukraine-Krieg: In den Schlussbetrachtungen über die Nachwehen des Zerfalls Jugoslawiens zitiert Mappes-Niediek Waldimir Putin, der die Annektion der Krim mit dem Kosovo-Krieg rechtfertigt. Über solche Nachwirkungen, gerade auch auf die internationale Politik und Demokratie, hätte man gerne mehr gelesen.

Norbert Mappes-Niediek: Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent. Rowohlt Verlag, Berlin 2022. 400 S., 32,- Euro.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.