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Arbeitskräftemangel: Arbeit am Wachstum

Früher fehlten Arbeitsplätze, heute scheint es zu viele davon zu geben. Wen stört das und warum?

Arbeitsplätze – Arbeitskräftemangel: Arbeit am Wachstum

Carlos Tavares ist ein Mann mit großen Problemen und großen Lösungen. Der Chef des französischen Autobauers Stellantis gebietet über Marken wie Peugeot, Fiat, Opel und sieht einen gnadenlosen »Darwinismus« am Weltautomarkt heraufziehen. Produktion wandere nach Asien ab, die USA lockten mit riesigen Subventionen. Europa drohe der Abstieg zum Tourismusziel: »In zehn Jahren werden wir chinesische und amerikanische Touristen in Europa mit Kaffee bedienen«, sagte Tavares Anfang Mai. Es gebe nur einen Weg, das Problem zu lösen: »Wir müssen den Wettbewerb akzeptieren. Ich sage etwas in Frankreich sehr Unpopuläres: Ihr müsst mehr arbeiten!«

Top-Ökonom für Arbeitszeitverkürzung

»Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse sich erweitern; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer in Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung.« Aus: Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band

Tavares steht mit seiner Forderung nicht allein. In allen etablierten Industrieländern fordern Konzernvorstände, Ökonom*innen und Politiker:innen von den Menschen mehr Arbeit. Das ist im Prinzip zwar nichts Neues. Als Hindernis galt allerdings jahrzehntelang ein Mangel an Arbeitsplätzen, weswegen sich die Politik als vorrangiges Ziel die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit setzte. Die SPD warb mit »Jobs, Jobs, Jobs« um Stimmen und die CDU versprach der Bevölkerung »Machen, was Arbeit schafft«.

Inzwischen allerdings hat die Debatte gedreht: Zwar zählt Deutschland noch immer 2,5 Millionen Arbeitslose plus rund drei Millionen Menschen in der »stillen Reserve« des Arbeitsmarktes. Geklagt wird heute aber über unbesetzte Stellen und Bewerbermangel – »aus der Arbeitslosigkeit ist die Arbeiterlosigkeit geworden«, so Michael Hüther, Chef des unternehmensnahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Die Politik müsse daher Maßnahmen ergreifen, um mehr Arbeit zu mobilisieren. In der laufenden Debatte wird deutlich, welche Stellung der Arbeit im herrschenden Wirtschaftssystem zugewiesen wird und wozu sie dient.

Wachstum für Arbeit

Das Problem der Arbeitslosigkeit galt stets als eines der betroffenen Menschen. Dass die Unternehmen sie für ihr Wachstum nicht benötigten, führte bei den Arbeitslosen zu Einkommensverlusten und trotz Sozialstaat häufig zu Armut. Die grundsätzliche Lösung des Problems stand damit immer schon fest: Es braucht mehr Wirtschaftswachstum, um mehr Menschen in den Arbeitsmarkt zu »integrieren«. Wachstum wiederum benötigt Investitionen der Unternehmen in neue Stellen. Und weil Unternehmen nur Arbeitsplätze schaffen, die sich für sie rentieren, muss Arbeit einen für sie attraktiven Preis haben. Als zentraler Grund für Arbeitslosigkeit galt daher das zu hohe Lohnniveau. Aus »Es gibt zu viele Arbeitssuchende« wurde »Die Arbeitssuchenden sind zu teuer« – zu teuer für die Unternehmen, zu teuer für das Wachstum. In Deutschland reagierte die rot-grüne Bundesregierung auf diese Problemlage mit der Agenda 2010. Sie verkürzten unter anderem die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld »schaffte damit für viele einen stärkeren Anreiz, länger zu arbeiten«, lobt Hüther.

Lohnzurückhaltung, Sozialabbau und die in allen Industrieländern stattfindende Schwächung der Arbeitnehmerseite sollte Arbeit verbilligen, die Attraktivität des Standortes verbessern, das Wachstum ankurbeln und so die Arbeitslosigkeit senken. Wettbewerbsfähigkeit, Investitionen und das daraus resultierende Wirtschaftswachstum galten damit als Dienstleistung an den Lohnabhängigen, die Arbeit »brauchen«.

Arbeit für Wachstum

Wachstum für Arbeitsplätze – diese Logik wird inzwischen umgedreht. In der aktuellen Debatte leiden nicht mehr die Lohnabhängigen an zu wenig Wachstum, sondern das Wachstum leidet an Arbeitskräftemangel. Laut Statistischem Bundesamt könnte die arbeitsfähige Bevölkerung in den nächsten 15 Jahren um 1,6 bis 4,6 Millionen Menschen sinken. Dies, so das IW, hätte »dramatische Konsequenzen« nicht nur für die Sozialsysteme, sondern für den Wirtschaftsstandort. »Ohne gezieltes Gegenlenken«, warnt Hüther, »droht Deutschland in den kommenden Jahren Wohlstandsverlust«. Denn wo weniger gearbeitet werde, verringere sich tendenziell auch die Produktion.

Mit einem Schrumpfen der Wirtschaftsleistung wird zwar derzeit nicht gerechnet; aber doch mit einer »demografie-bedingten Wirtschaftswachstumsverlangsamung«, so die Deutsche Bank. Zwar stehen die Babyboomer noch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, doch schon heute »verhindern begrenzte Produktivitätszuwächse eine stärkere Erholung der Wirtschaft«, stellt Allianz Research fest. Und laut den führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten droht ein Rückgang des »Potenzialwachstums« von etwa 1,3 Prozent in der Periode 1996 bis 2022 auf nur noch 0,7 bis 0,9 Prozent 2022 bis 2027. Für IW-Chef Hüther und andere ist daher die Lage klar: »Statt weniger brauchen wir mehr Arbeit.« Denn Deutschland braucht mehr Wachstum – auch wenn die meisten Menschen hier zu Lande laut Umfragen eigentlich gern etwas weniger arbeiten würden. Doch das lässt der Wachstumszwang nicht zu.

Das Problem ist global: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert seine Landsleute zu mehr Arbeit auf und verschiebt den Renteneintritt »im höheren Interesse der Nation«, so Macron. Die US-Regierung klagt über zehn Millionen unbesetzte Stellen, in Deutschland sollen es über 600 000 sein. Angesichts dieser Zahlen erwägt CDU-Vize Carsten Linnemann eine Art Arbeitspflicht. »Warum schaffen wir es nicht, dass jeder, der vom Staat Geld erhält, auch eine Bringschuld hat und arbeiten gehen muss?«, fragte er, schließlich »haben wir massig Arbeit«.

In Linnemanns Darstellung gibt es also Arbeit, die schlicht erledigt werden muss, was aber unterbleibt. Das mag auch teilweise zutreffen. Doch ist Linnemanns Bild schief. Schließlich ist Deutschland keine Gesellschaft, in der notwendige Arbeitsmengen zunächst festgelegt und anschließend verteilt werden. Im Kapitalismus ist ein Arbeitsplatz ein Ensemble von Kosten und Leistungsanforderungen, also das Ergebnis einer betrieblichen Kalkulation mit dem Zweck, dem Unternehmen einen Gewinn zu bescheren. »Unbesetzte Stellen« sind daher gleichbedeutend mit entgangenen Umsätzen, entgangenen Gewinnen, entgangenem Wachstum. Und in einem System, dass auf schrankenloses Wachstum zielt, ist jedes entgangene Geschäft gleichbedeutend mit Kosten und Verlust.

Eine Vier-Tage-Woche bezeichnet das IW daher als eine »utopische Idee«. »Schon jetzt ist Deutschland der OECD-Staat, in dem am wenigsten gearbeitet wird«, rügt das Institut. »2021 kam die Bundesrepublik auf eine durchschnittliche Jahresarbeitszeit von gerade einmal 1349 Stunden je Erwerbstätigen. EU-weit am meisten geschuftet wurde in Griechenland – mit einer durchschnittlichen Jahresarbeitszeit je Erwerbstätigen von 1872 Stunden.« So steigt das Krisenland zum Vorbild für Deutschland auf.

Einwanderung, Aktiv-Rente, Kinderbetreuung

Das erste Problem der »unbesetzten Stelle« ist also das entgangene Wachstum. Das zweite Problem ist, dass sie eine starke Stellung der abhängig Beschäftigten gegenüber den Unternehmen reflektiert. »Ein leergefegter Arbeitsmarkt stärkt die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer wesentlich«, erklärt die DZ Bank. Daraus folgen eigentlich deutlich steigende Löhne. Der Lohnanstieg würde so manche ausgeschriebene Stelle für Unternehmen unrentabel machen, sie würde verschwinden, was zwar eine marktwirtschaftliche Lösung des Arbeitskräftemangels wäre, gleichzeitig aber ein Schaden für das Wachstum.

Während früher die Löhne sinken sollten, um Wachstum und mehr Arbeitsplätze zu schaffen, so braucht es heute mehr Arbeitskräfte, damit der Lohn nicht so stark steigt und das Wachstum stimmt. Hier setzt die Politik an allen Bevölkerungsgruppen an: Die Alten sollen länger arbeiten, CDU-Vize Linnemann schwärmt von einer »Aktiv-Rente«, in der auch Rentner erwerbstätig sind. Die Jungen sollen über kurze Ausbildungszeiten früher dem Arbeitsmarkt zugeführt werden. Bessere Kinderbetreuung soll Eltern die Aufnahme von Jobs erleichtern. Teilzeit soll zugunsten von Vollzeit zurückgedrängt werden.

Dazu kommt die Förderung der Einwanderung entsprechend qualifizierter Arbeitskräfte, während »die Regeln für Menschen, die vom Sozialstaat leben, verschärft werden«, so FDP-Politiker Marco Buschmann. »Das setzt Anreize zur Aufnahme von Arbeit und zeigt: Wir wollen Einwanderung in den Arbeitsmarkt. Nicht in den Sozialstaat.« Die von Deutschland benötigten Qualifikationen sind dabei sehr unterschiedlich. Auch Billig-Arbeitskräfte aus armen Ländern können »durch die Senkung des Marktpreises für Haushaltsdienstleistungen hoch qualifizierten einheimischen Frauen erlauben, ihre unbezahlte Haushaltsproduktion zu reduzieren und ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt zu erhöhen«, so eine neue Studie der Universität Boston.

Auf diese Weise sollen die Standorte systematisch »die Möglichkeiten für höheres Wachstum erschließen«, so Allianz Research. Die ungenutzten Reserven werden dabei nach der Logik des Vergleichs kenntlich gemacht: Auf dem Arbeitsmarkt befinden sich 92 Prozent aller Männer zwischen 25 und 59 Jahren, so das Statistische Bundesamt, aber nur 83 Prozent aller Frauen, nur 74 Prozent aller Eingewanderten, nur 73 Prozent aller 20 bis 24Jährigen, nur 66 Prozent aller 60 bis 64Jährigen, nur 40 Prozent aller Mütter mit Kleinkind und nur 13 Prozent aller geflüchteten Frauen.

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