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»Air Defender 2023«: Ein Himmel voller Abschreckung
Über Deutschland beginnt die bislang größte Luftkriegsübung der Nato
An der größten Luftkriegsübung der Nato sind rund 250 Flugzeuge aller Art beteiligt. Rund 100 kommen aus den USA und werden in Europa innerhalb nur weniger Stunden einsatzfähig sein. Die Übung beginnt am 12. Juni und wird zeigen, dass die Nato »im Ernstfall schnell handeln kann«, sagte Generalleutnant Ingo Gerhartz und: Es stärkt »unsere transatlantische Verbindung im Krisenfall«, sagt der Chef der Deutschen Luftwaffe, der auch nach 2500 Flugstunden noch ein begeisterter Jagdflieger ist. Er absolvierte eine Ausbildung in den USA, flog im Kalten Krieg die »Phantom«, war begeistert von der MiG 29, die man von der NVA übernommen hat. Über Afghanistan saß er im »Tornado« und mit dem »Eurofighter« nahm Gerhartz an internationalen Übungen teil. Beispielsweise in Israel. Der großgewachsene Mann, Jahrgang 1965, ist seit fünf Jahren Chef der Deutschen Luftwaffe und hat viel Rückhalt in der Truppe, denn: Er ist ein Macher.
Generalleutnant Gerhartz übernahm die Führung der Luftwaffe, da war sie Top-Thema in Satire-Sendungen. Der neue Transporter A 400 M flog mehr schlecht als recht, »Tornados« standen ohne Ersatzteile herum, die Einsatzbereitschaft der »Eurofighter« war inakzeptabel. Erfahrene Piloten und Techniker suchten sich zivile Jobs. Innerhalb von zwei Jahren gelang es Gerhartz, einen Wandel herbeizuführen. Das nun anstehende, von deutscher Seite geplante und geführte Manöver ist somit auch ein Beweis seiner Leistungsfähigkeit. Einige vergleichen ihn bereits mit General Johannes Steinhoff, der Ende der 1960er Jahre die Pannenserie mit dem »Starfighter« beendete und danach Chef des Nato-Militärausschusses wurde.
So einen wie Gerhartz brauchen wir, gerade in dieser unsicheren Zeit, sagen Untergebene seines in Berlin-Gatow angesiedelten Stabes. Ihnen ist der 24. Februar 2022 tief im Bewusstsein. Damals überfiel Russland das Nachbarland Ukraine. Um die Mittagszeit, die Ad-hoc-Beratungen im Kanzleramt waren gerade beendet, bekam der Luftwaffenchef einen Anruf. Drei Stunden später verlegte er die ersten Jets nach Rumänien. An die russische Grenze. Dort sollten sie helfen, Putin klar zu machen, wo die »rote Linie« des westlichen Bündnisses ist.
Das bevorstehende Manöver ist aus Nato-Sicht abermals ein Versuch, möglichen russischen Übermut abzukühlen. Vom 12. Juni bis zum 23. Juni werden in Deutschland und in angrenzenden Lufträumen mehr als 10 000 Soldatinnen und Soldaten aus 25 Nationen die Bereitschaft und die Fähigkeit des Bündnisses signalisieren, jeden Angreifer abzuwehren. Die Luftwaffe betont: »Gemeinsam mit unseren Partnern üben wir die kollektive Verteidigung gemeinsamer Werte, wie Freiheit, Demokratie und Wohlstand.« Als »First Responder« in einem möglichen Konflikt sollen die vereinigten Luftstreitkräfte auf ihrem Gebiet die Luftüberlegenheit sichern. Das sieht man auch angesichts der aktuellen Erfahrungen im Ukraine-Krieg als den »Schlüssel zum Schutz der Bevölkerung sowie der eigenen Kräfte«. Zugleich wird betont, dass die Übung »einen rein defensiven Charakter« habe. Sicher ist, dass der »starke Zusammenhalt im Bündnis sowie die transatlantische Geschlossenheit« für jedermann sichtbar wird.
Die Flugzeuge starten von unterschiedlichen Flugplätzen in Deutschland und Europa, um dann abwechselnd in drei klar definierten deutschen Lufträumen einige Stunden pro Tag zu üben. Für zivile Nutzer ist dann da kein Platz. Mit Aero-Clubs sowie der Luftsicherung sei alles besprochen. Man hofft auf das Verständnis vor allem der Passagiere ziviler Airlines.
Besonders geplagt vom Düsenlärm werden die Anwohner in weiten Gebieten Mecklenburg-Vorpommerns und Schleswig-Holsteins sein. Ältere Bewohner werden sich erinnern, wie laut der Kalte Krieg dies- und jenseits der damaligen deutschen Grenze tagtäglich war.
Die geopolitische Lage des nun vereinten Deutschlands bietet geeignete Bedingungen zum Beleg aktueller militärischer Meisterschaft. Die Übungsgebiete sind nah genug an der neuen Trennlinie Europas und doch weit genug weg, um von Moskau nicht missverstanden zu werden. »Nur vereinzelt«, so schränkt Gerhartz ein, werden Luftbewegungen nahe der Grenze zu Russland stattfinden. Er weiß, »es wäre sicherlich eine Provokation, wenn wir simulieren würden, wie wir Missionen etwa in Richtung Kaliningrad fliegen«, sagte er jüngst dem »Tagesspiegel«.
Aus russischer Perspektive betrachtet man das gewaltige Kriegsspiel dennoch mit viel Misstrauen. Die Nato unterstützt die Ukraine, gegen die man seit über einem Jahr anrennt. Außerdem findet »Air Defender 2023« nicht isoliert von anderen westlichen Manövern statt. Im jüngsten Nato-Mitglied Finnland starteten in der vergangenen Woche Luftkriegsübungen, an denen mehr als ein Dutzend Länder mit insgesamt 150 Flugzeugen beteiligt sind. Es stimmt zwar, dass Schweden, Finnland und Norwegen bereits seit 2013 alle zwei Jahre zu »Arctic Challenge Exercise« einladen, doch das aktuelle Manöver ist von besonderer Natur. Finnland, das eine 1300 Kilometer lange Grenze mit dem Russland teilt, ist nicht mehr neutral und Schweden wird in Kürze gleichfalls Mitglied der Nato sein. Im Norden dabei sind Jets aus dem Taktischen Luftwaffengeschwader 31, das üblicherweise in Nörvenich stationiert ist. Ebenfalls beteiligt sind AWACS-Flugzeuge aus Gailenkirchen, mit denen sich Lufträume überwachen lassen, die so groß sind wie das Nato-Land Polen.
Lesen Sie dazu auch den Kommentar »Fliegende Benzinkannister« von Daniel Lücking.
Oberst Henrik Elo, Sprecher der finnischen Luftwaffe, erklärte, dass das Manöver mit Simulationen von Verteidigungsoperationen beginne, dann jedoch auch »offensive Elemente wie Luft-Boden-Angriffe eingeführt werden«. Ähnliches hörte man über »Air Defender« noch nicht. Doch wer sich die eingesetzten Flugzeugtypen anschaut, entdeckt neben F-16 und »Tornados«, die zur Unterstützung von Bodentruppen taugen, auch A-10-Maschinen aus den USA. Diese Maschinen sind speziell für den Erdkampf konstruiert und haben ihre schreckliche Wirkung eindrücklich bei den US-Überfällen auf den Irak demonstriert. Nun sind sie auf der Luftwaffenbasis Hohn (Schleswig-Holstein) stationiert.
In einer Woche werden die gut choreographierten Kämpfe über Deutschland beginnen. Bereits jetzt schweben riesige Transportmaschinen vor allem aus den USA ein. Kampfjets folgen. Nach und nach werden die auf Zeit errichteten Unterkünfte bezogen. Allein auf dem Stützpunkt Jagel und in der Kaserne bei Kropp hat die Bundeswehr eine Kleinstadt mit 70 Großzelten und 800 Wohncontainern errichtet. Dazu verlegten Spezialpioniere 14 Kilometer Stromkabel und zwei Kilometer Wasserleitungen. Macht es Sinn darüber nachzudenken, wie vielen Flüchtlingen man so ein halbwegs sicheres Obdach bieten könnte?
Die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) fordert eine Absage der Großübung. Man sorgt sich nicht nur über die Chance zu Missverständnissen jeglicher Art, die zu einer heißen Konfrontation führen könnten. »Wer im Juni ein Militärflugzeug hört oder über sich sieht, sollte daran denken, dass es jede Sekunde enorme Steuergelder verfeuert, die etwa im Sozial-, Bildungs- oder Gesundheitsbereich und beim Klimaschutz fehlen«, sagt Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der DFG-VK. Die Bundesregierung, so fordert er, müsse endlich Umdenken, denn: »Die tatsächlich sicherheitsrelevanten Probleme der Menschen sind mit Militär nicht zu lösen.« Dem wird General Gerhartz wohl grundsätzlich zustimmen – und die Lage trotzdem ganz anders beurteilen.
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