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Vom Überschwappen
Tränen lügen nicht – oder doch?
Weinen heißt überschwappen. Die sichtbar vergossenen Tränen sind nur ein Bruchteil derer, die Menschen in Wirklichkeit absondern. Der Großteil der durchsichtigen Flüssigkeit wird nämlich unsichtbar vergossen, er wird nicht vom Inneren des Auges nach außen transportiert, sondern fließt durch die dazugehörigen Drüsen kontinuierlich ab. Die menschliche Tränendrüse produziert ständig salzhaltige Körperflüssigkeit – und das, was man umgangssprachlich als »weinen« bezeichnet, ist nur ein ungewöhnlicher Überschuss, ein Überschwappen des Augengefäßes.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
In der Medizin unterscheidet man zwischen zwei Arten der Überschussflüssigkeit Tränen: Reflextränen und emotionale Tränen. Die Reflextränen werden durch Fremdkörper oder Umwelteinflüsse wie Wind oder Rauch hervorgerufen, die Motive, die die emotionalen Tränen zum Fließen bringen, sind weniger leicht verallgemeinerbar. Wenn man beide Tränenformen unter das Mikroskop legt, stellt man fest, dass sie sich auch in ihrer Gestalt unterscheiden. Der Grund dafür ist ihre unterschiedliche chemische Zusammensetzung.
Die unterschiedlichen Tränenformen stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander: Während den unsichtbar abfließenden Tränen keinerlei und den Reflextränen kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist das Vergießen von emotionalen Tränen eine zentrale Kulturtechnik. Man könnte sagen, dass es die Fähigkeit oder Unfähigkeit, emotional zu weinen, ist, die in der westlichen Kultur das Menschliche vom Nicht-Menschlichen unterscheidet.
Ein Aspekt, der diese Unterscheidung herstellt, ist der Zusammenhang, der zwischen der Idee von emotionalen Tränen und der einer Seele besteht: In den Tränen trennt sich das »Beseelte« vom »Unbeseelten«. Wenn ein Mensch weint, wird das als gängige soziale Handlung betrachtet; wenn ein Tier weint, ist das eine Fernsehnachricht wert; und weinende Gegenstände kommen ausschließlich in den magisch-mystischen Bereichen des Katholizismus vor.
Gerade weil weinende Tiere und Objekte offensichtlich als Grenzphänomene gehandelt werden, sind sie interessante Betrachtungsgegenstände, um mit ihrer Hilfe die Differenz von Seele und Nicht-Seele zu analysieren. Neben dem explizit Menschlichen (also Seelenvollen) und dem explizit Nicht-Menschlichen (dem Seelenlosen) gibt es auch noch das Animistische (das Seelenvoll-Unmenschliche) und das Anthropomorphe (das Beseelt-Vermenschlichte).
Eines dieser Grenzphänomene im Bereich der Tierwelt sind die Krokodilstränen. Wenn Krokodile ihre Beute vertilgen, fangen sie an, Tränen zu vergießen. Es ist unklar, ob es ein anatomischer Mechanismus ist, der sie ihre Opfer beweinen lässt, oder ob die Tränen sich tatsächlich auf das gerade erlegte Beutetier beziehen. Schon die frühchristliche Naturlehre »Physiologus« stellt die These auf, dass Krokodile emotional trauern können: »Wenn (das Krokodil) einen Menschen ergreift, frisst es ihn auf, von den Füßen an bis zur Wirbelsäule. Wenn es aber nahe an den Kopf kommt, setzt es sich hin und betrauert ihn.«
Obwohl es eine lange Tradition des Glaubens an die tierische Fähigkeit gibt, emotionale Tränen zu vergießen, gilt das Krokodil bis heute als ein Phänomen des Unbeseelt-Unmenschlichen. Ein Indiz dafür, dass dem Krokodil diese Fähigkeit doch abgesprochen wird, ist die Verwendung des Begriffs Krokodilsträne. Umgangssprachlich ist damit die geheuchelte, »unechte« Form der menschlich-emotionalen Träne gemeint. Der Begriff wird häufig im Zusammenhang mit Politiker*innen verwendet. In dem persiflierenden Umgang mit dem Begriff Krokodilstränen zeigt sich ein Prinzip, etwas zum Anthropomorphen zu erklären: Das Krokodil wird mit seinen Tränen vermenschlicht – und dadurch wird ihm, zumindest in der Karikatur, eine Seele unterstellt.
Ein weiteres Grenzphänomen sind die Wundergeschichten über weinende Statuen und Ikonen. So berichtete 2003 zum Beispiel »Agenzia Italia« 2003: »Eine Gruppe italienischer Pilger aus der Gemeinde San Giovanni Battista wurde während des Besuchs des Saktuariums von San Gabriele della Maiella Augenzeuge eines wundersamen Phänomens. Während sie vor der Statue der Madonna dell’Addolorata beteten, sahen sie von dieser eine farblose Flüssigkeit fließen, die wie menschliche Tränen aussah. Es gab einen großen Aufruhr in der Kirche und die Priester intervenierten und konfiszierten die Statue. Die Augenzeugen des Phänomens wurden zu einem Gespräch mit dem Rektor gebracht, der sie bat, nicht über das Wunder zu sprechen und vorsichtig mit Beschreibungen dessen zu sein, was sie gesehen hatten. Die Priester (die den Tränenfluss auch gesehen hatten) isolierten die Statue in der Kirche und bestellten Fotografen. Flüssigkeitsproben wurden genommen.«
In der mündlichen Überlieferung dieser Wundergeschichten über weinende Statuen zeichnet sich die Idee des Animismus ab. »Allbeseeltheit« stellte schon eine Grundlage der griechischen Mythologie dar und kommt heutzutage fast nur noch in religiösen Zusammenhängen vor. Der weinenden Madonna dell’Addolorata, der schmerzensreichen Madonna, wird eine Seele zugesprochen, ohne dass sie dadurch zu einem Wesen aus Fleisch und Blut erklärt wird – die tränende Statue bleibt hölzern und hat trotzdem Anspruch auf Emotionalität. Weinende Ikonen sind seelenvolle Dinge.
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