Buch »Adultismus«: Kinder sind auch Menschen

Ein aktuelles Buch schlägt vor, das Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern als »Adultismus« zu begreifen und fordert intergenerationale Gerechtigkeit

  • Paula Knieper
  • Lesedauer: 8 Min.
Schon mündig? Ob es eine gute Idee ist, das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen als »Ismus« und abstrakte Machtbeziehung zu denken, bleibt fraglich.
Schon mündig? Ob es eine gute Idee ist, das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen als »Ismus« und abstrakte Machtbeziehung zu denken, bleibt fraglich.

Ist das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen per se gewaltförmig? Diese Frage behandeln Manfred Liebel und Philip Meade in ihrem aktuellen Buch »Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder«. Die »kritische Einführung« ins Thema will die Aufmerksamkeit der Leser*in auf ein Diskriminierungsverhältnis lenken, das im Gegensatz zu Rassismus und Sexismus häufig unsichtbar scheint.

Als Definition von Adultismus präsentieren die Autoren die direkte oder indirekte Gewaltausübung von Erwachsenen gegenüber Kindern. Diese folge dem Zweck, bestimmte Ziele zu erreichen, eigene Bedürfnisse zu befriedigen, sich Ängsten zu entziehen, Dominanz und Kontrollwünschen nachzugeben – oder sich schlicht das Leben bequemer zu machen. Solche Akte der Geringschätzung, Bevormundung oder Bestrafung von jungen Menschen führe bei diesen zu Unsicherheit und Selbstentwertung, zu Frustrationen und produziere Widerstand.

Institutionelle Verankerung

Historisch stellen die Autoren die Umgangsformen des Adultismus in den Kontext der bürgerlichen Ordnung, die auf der Vorherrschaft von Männern basierte und von Aggressivität und militärischer Disziplin bestimmt war. Dabei wird allerdings nicht allein der Machtmissbrauch, sondern Macht an sich als Problem identifiziert: Es geht nicht darum, Kinder »an die Macht« zu bringen, sondern ein würdevolles, gleichwertiges und gleichberechtigtes Verhältnis zwischen den verschiedenen Altersgruppen zu gestalten.

Als institutionelle Grundpfeiler des Adultismus in den bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften benennen Manfred Liebel und Philip Maede die Kleinfamilie, die Schule sowie Recht und Politik. In diesen liege ein Kindheitsverständnis vor, demzufolge Kinder den als »vollwertige« Menschen angesehenen Erwachsenen prinzipiell unterlegen sind und so einen geringeren sozialen Status zugewiesen bekommen. Begründet werde diese Unterordnung junger Menschen zumeist mit ihren (vermeintlich oder tatsächlich) geringeren Kompetenzen und einer besonderen Schutzbedürftigkeit.

Allem voran in der Kleinfamilie seien junge Menschen von Geburt an in nahezu allen Lebenslagen von ihren Eltern abhängig, der Umgang mit den Kindern in der Privatsphäre bleibe weitestgehend unbehelligt. Der Akt der körperlichen Züchtigung etwa wurde erst im Jahr 2000 verboten; die Idee, dass Kinder gewaltfrei aufwachsen sollen, ist also vergleichsweise neu. Aber auch im öffentlichen Raum sehen die Autoren junge Menschen als benachteiligt an, ihr Verhalten werde durchweg an Maßstäben gemessen, die von Erwachsenen aufgestellt wurden.

Kinderschutz als Diskriminierung

Als konkrete Beispiele nennt das Buch das Fernhalten von Kindern aus Cafés und Restaurants zur Vermeidung von Lärm oder die Maßregelung von Jugendlichen bei der nicht konformen Benutzung von Spielplätzen oder Parks. Hier könne der für notwendig gehaltene Kinderschutz zur – wenn auch teils unbeabsichtigten – adultistischen Diskriminierungsform werden. Junge Menschen in dieser Weise von vermeintlichen Gefahrenquellen und schädlichen Einflüssen fernzuhalten, sei Ausdruck eines Kontrollwunsches durch Erwachsene, der faktisch den Effekt einer Viktimisierung habe. Der Vorwand fehlender Erfahrung diene hier als Rechtfertigung, um die Abhängigkeit der Kinder über das notwendige Maß hinaus zu verlängern.

Vorschub geleistet wird dem Adultismus, so Liebel und Mead, durch digitale Technologien, die es den Eltern zunehmend leichter machen, jede Bewegung ihrer Kinder zu überwachen; diese würden gleichsam an die elektronische Leine gelegt. Die Tech-Industrie bietet hierfür mittlerweile GPS-Tracking-Apps für Smartphones, smarte Uhren und Spielzeuge, die es dem individuellen Kind unter Zuhilfenahme der Altersbegrenzungen verwehren, sich an der Risikoerkennung und -einschätzung einer bestimmten Situation zu beteiligen.

Ein weiterer Ausdruck adultistischer Diskriminierung ist den Autoren zufolge die Beschränkung des Zugangs zu Ressourcen. Jugendliche hätten nur begrenzten Zugang zu Notfall- und Hilfediensten, zu Bussen und Geschäften. Sie würden nicht ernst genommen, sondern verdächtigt, kriminell und gewalttätig zu sein. Die Normierung von Alltagsgegenständen wie Türen, Toiletten oder Schildern sei nicht inklusiv, sondern errichte Barrieren, welche die Abhängigkeit junger Menschen von Erwachsenen verstärken. Aufgrund der Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten sowie eine auf das Auto ausgerichtete Stadtentwicklung seien frei zugängliche und gestaltbare Lebensräume für Kinder immer weiter eingeschränkt worden. Die ersatzweise angebotenen Spielplätze und andere Freizeiteinrichtungen unterlägen einer von Erwachsenen festgelegten Funktionsbestimmung und seien als Inseln im Stadtraum verteilt, die für Kinder nicht autonom erreichbar sind.

Die zunehmende Verhäuslichung und Dominanz des Elternhauses als Sozialisations- und Lebensraum gegenüber dem öffentlichen Raum, welche die Autoren unter Verweis auf die aktuelle Kinderforschung kritisieren, habe zur Folge, dass sich junge Menschen immer später in ihrem Leben ihre Umwelt in Eigeninitiative aneignen und ihr Bedeutung geben können. Schließlich spiele der Faktor Zeit eine immer problematischere Rolle. Mit zunehmender Zeitrationalität würde Zeit zur begrenzten Ressource und damit zum Mittel der Macht; wenn etwa Konflikte zwischen jungen Menschen und ihren Bezugspersonen von Zeitmangel geprägt seien, verstärke sich die Kontrolle durch die Erwachsenen noch einmal, was die Lebensqualität von jungen Menschen weiter einschränke.

Anti-adultistische Ansätze

Die Frage nach einer anti-adultistischen oder adultismuskritischen Pädagogik beantworten die Autoren mithilfe der kritischen Psychologie. Deren subjektorientierter Zugang zum Erwachsenen-Kind-Verhältnis gehe von der These aus, dass die verschiedenen Erziehungsstile (ob autoritär, laissez faire oder demokratisch) beim einzelnen Kind gar keine vorhersehbare Entwicklung steuern, sondern sich gar als »Entwicklungsbehinderungen« herausstellen können. Den Ausweg aus diesem Dilemma sehen die Autoren hauptsächlich darin, ein emotionales Näheverhältnis zum Kind aufzubauen. Dann sei es auf der Basis gemeinsam ausgehandelter Regelungen durchaus möglich, dass sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder ihre Bedürfnisse erfüllen können. Ein Kind sei nämlich umso mehr dazu bereit, eine Regel einzuhalten, je mehr Möglichkeiten es hat, über seine Lebensbedingungen selbst zu verfügen.

Als besonders wichtig erachten Liedel und Mead eine Verständigungssuche und gemeinsame Verhandlungsbasis zwischen Erwachsenen und Kindern, sodass die Entscheidungen nicht eine Frage der Macht bleiben. Im subjektorientierten Umgang mit Kindern gehe es günstigstenfalls um Unterstützung, wobei Kinder stets berechtigt seien, die Beteiligung von Erwachsenen, die sich in einer Machtposition befänden, zurückzuweisen. Adultismuskritische Ansätze in der Schule zu implementieren, stößt den Autoren zufolge allerdings auf den Widerspruch, dass Partizipation der Schüler*innen in instrumenteller Weise dort vorwiegend als pädagogische Maßnahme angewandt würde, um zum Mitmachen zu animieren und den Schulfrieden zu wahren.

Aus adultismuskritischer Perspektive bemerkenswert seien die Argumentationen von Greta Thunberg und der Gruppe Fridays for Future: Sie alle thematisierten das Generationenverhältnis tatsächlich als Herrschaftsverhältnis und forderten intergenerationelle Gerechtigkeit. Die jungen Klimaaktivist*innen würden sich sehr viel älteren Machthaber*innen ausgeliefert sehen, die die Folgen des Klimawandels selbst nicht mehr erleben werden, aber den jungen Menschen allein aufgrund ihres Alters ernsthafte Kritikfähigkeit absprechen. Greta Thunberg allerdings sei, so die Autoren, aus dem Teufelskreis ausgebrochen, in dem viele Jugendliche stecken, indem sie die moralische Anspruchshaltung der Erwachsenen gegenüber den Kindern umdrehe: »Wenn sich die Erwachsenen nicht für meine Zukunft interessieren, werde ich mich nicht an ihre Regel halten.«

Leerstelle Kapitalismuskritik

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es den Autoren um einen umfassenden Begriff von Emanzipation, von Selbst-Befreiung geht. Elternschaft wird nicht per se positiv besetzt, sondern auf Macht- und Unterdrückungsmechanismen hin untersucht. Was hierbei zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass auch die Eltern einer Zurichtung durch die kapitalistische Gesellschaft unterworfen sind, die ihnen oft wenig Zeit zum Durchatmen lässt; dies gilt zumal für proletarische oder von Armut betroffene Menschen mit Kindern. Dieser Punkt wird zwar von den Autoren in verschiedenen Kapiteln und auch im Fazit kurz angesprochen, bleibt aber als grundlegendes Charakteristikum unseres Gesellschaftssystems letztlich unterbestimmt.

Des Weiteren wird die Kleinfamilie zwar ganz richtig als Hort der Zurichtung für gesellschaftliche Anforderungen kritisiert. Als Beleg für diese Problematik bürgerlicher Erziehung ziehen die Autoren aber vor allem besonders reaktionäre Erziehungswissenschaftler heran, die den Erziehungsfragen autoritär begegnen. Dabei bleibt leider die Frage unbeantwortet, wie der Herausforderung von ja objektiv ungleichen Voraussetzungen bei jungen Menschen und Erwachsenen begegnet werden soll. Dass eine externe Begrenzung wie etwa die Auswahl von Lerninhalten einem Kind überhaupt erst den Zugang zu diesen ermöglicht, oder dass das Fällen von Entscheidungen eine große Anstrengungen bedeutet, die junge Menschen überfordern kann, wird nicht wirklich thematisiert.

Grundsätzlich bleibt auch die Frage unberührt, wie mit dem Gefälle des Erfahrungshorizonts zwischen Erwachsenen und jungen Menschen umgegangen werden kann, ohne Überforderungssituationen für junge Menschen zu schaffen – denn im Zustand der Überforderung können Kinder weder lernen noch sich auf anderen Ebenen emanzipieren. Hier drängt sich trotz der an vielen Stellen richtigen Kritik der Autoren der Gedanke auf, dass sich vor dem schlichten Akt der Verantwortungsübernahme für andere gescheut wird. Für andere Entscheidungen zu treffen, wird nicht als Notwendigkeit der gegenseitigen Fürsorge anerkannt, in der mit Vorsicht, Perspektivübernahme und Fehlerfreundlichkeit vorzugehen ist. Dennoch braucht es vielleicht einen so stark auf junge Menschen und ihre Stellung in der Gesellschaft fokussierten Blick, damit es gelingt, die »Erwachsenenbrille« einmal abzusetzen – besonders dann, wenn die eigene Kindheit schon etwas länger zurückliegt.

Manfred Liebel und Philip Meade: Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder. Eine kritische Einführung. Bertz + Fischer, br., 440 S., 19 €.

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