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Wie der Mindestlohn wirkt
Löhne: Was Regulierung und Personalmangel im Gastgewerbe ausgelöst haben
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Wer am Wochenende in den Biergarten geht, ist zu Gast bei einer Branche, in der besonders niedrige Gehälter eine lange Tradition haben. Doch nach den Pandemie-Lockdowns hat sich etwas verändert in Kneipen und Hotels. Tarifexperten sprechen von »außergewöhnlichen Lohnsteigerungen« im Gastgewerbe – und die gab es auch anderswo. Die Entwicklung zeigt, wie Regulierung in Kombination mit Arbeitskräfteknappheit wirken kann.
Kürzlich hat das Statistische Bundesamt gemeldet, dass die durchschnittlichen Reallöhne im ersten Quartal des Jahres wieder gesunken sind – trotz der teils hohen »Inflationsausgleichsprämie«, die viele Beschäftigte in der Zeit erhalten haben. In der Metall- und Chemieindustrie betrug die Einmalzahlung beispielsweise 1500 Euro. Die Gehälter von einigen Erwerbstätigen sind indes überdurchschnittlich gestiegen. Darunter sind insbesondere Menschen, die für ihre Arbeit sehr schlecht bezahlt werden. Zum Beispiel geringfügig Beschäftigte im Gastgewerbe und anderen Branchen.
Fast neun Prozent mehr für Minijobs
Ihre Monatseinkommen waren im ersten Quartal 2023 fast neun Prozent höher als ein Jahr zuvor, der Anstieg lag damit knapp über der Inflationsrate. Die Lohnerhöhung sei nicht mit längeren Arbeitszeiten zu erklären, betont ein Fachmann des Statistischen Bundesamts (Destatis). Vielmehr dürfte der höhere gesetzliche Mindestlohn ein wesentlicher Grund sein. Er hat offenbar auch Minijobber*innen erreicht, die häufig um andere Ansprüche wie bezahlte Urlaubstage geprellt werden.
Bundesregierung und Bundestag haben den gesetzlichen Mindestlohn im vorigen Jahr nach und nach angehoben, seit Oktober beträgt er zwölf Euro pro Stunde. Aufs Kalenderjahr berechnet heißt das: 2022 war der Mindestlohn insgesamt rund zehn Prozent höher als im Vorjahr. 2023 beträgt der Anstieg nochmal rund 14 Prozent. Denn Beschäftigte haben nunmehr das ganze Jahr über Anspruch auf zwölf Euro, und nicht nur, wie 2022, von Oktober bis Dezember.
»Wer zum Mindestlohn bezahlt wird, hatte zuletzt klare Reallohngewinne – sofern der Arbeitgeber die Arbeitszeit nicht verkürzt hat«, sagt Markus Grabka, Verteilungsforscher beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dem »nd«. Die absolute Steigerung in Euro sei indes oft überschaubar, weil viele in Teilzeit oder Minijobs arbeiteten.
Die zwölf Euro erhalten Erwerbstätige brutto, auch der Rückgang der Reallöhne bezieht sich auf Bruttoentgelte. Eine kürzlich veröffentlichte Analyse hat sich nun angeschaut, wie sich die preisbereinigten Nettoarbeitseinkommen von verschiedenen Haushaltstypen verändert haben. Demnach haben fast alle Haushaltsbeispiele seit 2021 Einbußen bei der Kaufkraft erlitten: alleinstehende Facharbeiter*innen ebenso wie Familien mit Kindern, die ein geringes, mittleres oder hohes Gehalt haben. Bei einzelnen Haushaltsbeispielen blieb die Kaufkraft ungefähr gleich. Einzige Ausnahme: Alleinstehende Vollzeitbeschäftigte mit Mindestlohn haben im laufenden Jahr »netto und preisbereinigt 7,8 Prozent mehr Kaufkraft als 2021«, schreibt das Wirtschaftsforschungsinstitut IMK der Hans-Böckler-Stiftung. Dabei wurde berücksichtigt, dass der Preisanstieg für Geringverdienende höher ist als die allgemeine Inflationsrate.
»Tarifpolitischer Aufbruch« im Gastgewerbe
Im Gastgewerbe sind die Gehälter nicht nur wegen des neuen Mindestlohns gestiegen. Hinzu kam ein »tarifpolitischer Aufbruch« ab Herbst 2021, nach einem langen Stillstand während der Kneipen- und Hotelschließungen in der Pandemie, schreiben die Tarifexperten Thorsten Schulten von der Böckler-Stiftung und Johannes Specht von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG). In ihrem Bericht vom vorigen Jahr schildern sie, wie im August 2021 zunächst in Schleswig-Holstein erstmals wieder ein Entgelttarifvertrag erzielt wurde. Es folgten Tarifrunden in den anderen Regionen. Schließlich wurde überall eine deutliche Erhöhung der unteren Einstiegslöhne vereinbart. Zwischen Januar 2021 und Oktober 2022 stiegen die untersten Vergütungen in den meisten Regionen um 20 bis 32 Prozent – auf 12,02 bis 12,72 Euro pro Stunde, heißt es in dem Bericht. Der Anstieg ist beachtlich, er verweist jedoch auch darauf, wie mies die Einstiegsgehälter zuvor waren.
In den meisten Tarifregionen setzte die NGG zudem durch, dass die untersten Vergütungen in einem zweiten Schritt nochmal steigen. Auch darüber liegende Entgeltgruppen wurden angehoben, ebenso wie die Ausbildungsvergütung, die beispielsweise in Brandenburg im ersten Lehrjahr von 700 auf 850 Euro stieg.
Unternehmen »von der Not getrieben«
Ohne den Druck, die Tarifverträge an den neuen Mindestlohn anzupassen, wären die Lohnsprünge kaum möglich gewesen, betonen Schulten und Specht. Zudem wirkte der Arbeitskräftemangel: Nach den Pandemie-Einschränkungen hätten die Unternehmen gemerkt, dass sie offene Stellen nicht besetzen können, sagt der Gewerkschafter Mark Baumeister dem »nd«. Sie seien »von der reinen Not getrieben«, so der Referatsleiter Gastgewerbe bei der NGG. In einigen Unternehmen sei die NGG zudem gut organisiert und könne Druck machen, etwa in manchen Hotelketten.
Die meisten Unternehmen im Gastgewerbe sind jedoch nicht verpflichtet, die Belegschaft nach Tarif zu bezahlen. Laut Destatis arbeiten nur 20 Prozent der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Betrieb. In einzelnen Regionen sind zudem die untersten Tarifgehälter oder der ganze Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt worden.
Wie sich die Gehälter im gesamten Gastgewerbe entwickelt haben, also in Betrieben mit und ohne Tarifbindung, darüber gibt es Destatis-Daten für Vollzeitbeschäftigte, die bis April 2022 reichen. Demnach waren die Bruttostundenlöhne von Fachkräften im April vorigen Jahres im Schnitt sechs Prozent höher als ein Jahr zuvor und lagen bei 15,22 Euro. Etwas höher waren die Zuwächse bei sogenannten Helfern, die Arbeiten erledigen, für die keine Ausbildung nötig ist. Am stärksten stiegen auch nach diesen Daten die Entgelte von denjenigen, die 2021 besonders schlecht bezahlt wurden: Etwa angelerntes Personal in Hotels und Pensionen sowie im Ausschank.
Mindestlohn und neue Tarifverträge haben dazu geführt, dass die Zahl der Niedriglohn-Jobs mit weniger als 12,76 Euro brutto pro Stunde gesunken ist. So erhielten im April vorigen Jahres 63 Prozent der Beschäftigten im Gastgewerbe lediglich einen Niedriglohn, im Oktober waren es dann noch 50 Prozent. Das ist ein starker Rückgang, wobei weiterhin sehr viele schlecht bezahlt werden. Zum Vergleich: In der Gesamtwirtschaft arbeiteten zuletzt 15 Prozent aller Beschäftigten zu einem Niedriglohn.
Damit ist der Anteil der Niedriglohn-Jobs laut Destatis auch insgesamt in Deutschland zurückgegangen, von 19 auf 15 Prozent im Oktober vorigen Jahres.
Zuletzt seien gerade die unteren Lohngruppen deutlich gestiegen, so Grabka. Auch, weil Gewerkschaften wie Verdi seit einiger Zeit in Tarifrunden neben prozentualen Lohnsteigerungen auch feste Eurobeträge durchsetzen, die besonders Geringverdienenden zugutekommen. Dennoch seien die Verdienste oft immer noch niedrig, betont der Wissenschaftler.
»Nie mehr nur Mindestlohn!«
Welche Lohnuntergrenzen in den kommenden Jahren gelten sollen, hat die Mindestlohnkommission Ende Juni verkündet. Sie empfiehlt, dass der gesetzliche Mindestlohn ab Januar 2024 auf 12,41 Euro und ab Januar 2025 auf 12,82 Euro steigt. Für diesen Vorschlag stimmten die Arbeitgebervertreter und die Kommissionsvorsitzende Christiane Schönefeld – die Arbeitnehmervertreter lehnten ihn ab. Aus ihrer Sicht hätte der Mindestlohn wenigstens auf 13,50 Euro steigen müssen, um einen Mindestschutz zu gewährleisten.
Ob der Mindestlohn stärker oder schwächer angehoben wird, hat teils unmittelbare Auswirkungen auf Tarifentgelte. So haben die NGG und der Arbeitgeberverband Dehoga in einigen Regionen fürs Gastgewerbe Abstandsklauseln vereinbart. In Rheinland-Pfalz muss beispielsweise das unterste Tarifgehalt immer fünf Prozent über dem Mindestlohn liegen. Für die Dehoga Rheinland-Pfalz ist das ein Mittel, um Personal zu finden. In einem Papier zur Mitarbeitergewinnung pries der Arbeitgeberverband die Regelung schon 2021 mit den Worten: »Nie mehr nur Mindestlohn!«
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