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Am Anfang war der Schrei
Ein Nachruf auf das Berliner Obdachlosen-Theater Ratten 07
Ein Abend mit den »Ratten« konnte schon mal eskalieren. »Berlin 2000. Ein vermögenswirksamer Abend«: Regisseur Roland Brus hatte mit sieben resp. 07 Darstellern geprobt. Fünf davon hatten den Weg in die Treptower Bekenntniskirche gefunden, von denen sich dann drei auf der Bühne die Fresse poliert haben. Einer stürmte hinaus, sodass am Ende des Stückes noch vier »Ratten« den spärlichen Beifall entgegennahmen. Vorher aber war der Küster auf die Bühne geeilt, mit dem Feuerlöscher, die unbedachten Künstler mussten ja unbedingt die Requisite – eine Papiertonne – in Brand setzen.
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Ratten 07, was für ein Theater! Keine Vorstellung glich der anderen. Davon berichtet auch der Sozialarbeiter Andreas Abel in seiner vor etlichen Jahren an der Alice-Salomon-Hochschule eingereichten Diplomarbeit. Als »Abel vom Acker« gehörte er jahrelang selbst zum Ensemble. Die »Ratten«, sagt er, spielten immer ohne Souffleur. Und vergaß wer seinen Text, waren alle auf der Bühne gefordert, die Handlung der Szene voranzubringen. Gerade die vielen Improvisationen haben der Aufführung gutgetan, das Stück lebendig gemacht. Während die Premiere immer ein Erfolg war, schon weil sie ausverkauft war und die Darsteller mit starker innerer Anspannung spielten, sei dann tags darauf die zweite Vorstellung gefloppt. Weil die »Ratten« immer noch mit den Folgen der Premierenfeier zu kämpfen hatten …
Um es kurz zu machen: Es wird keine Premierenfeier mehr geben. »Der große Kladeradatsch«, die letzte Inszenierung der Ratten 07, ist nun bald vier Jahre her. Allem Anschein nach ist das Obdachlosen-Theater heimlich still und leise an Corona gestorben. Das Büro auf dem RAW-Gelände ist nie besetzt; ein Briefkasten ist noch da. Und Uta Kala, die bei den »Ratten« zuletzt Regie führte, zitiert die Bibel: »Ein jegliches hat seine Zeit.« Klaus Lederer, bis vor Kurzem linker Berliner Kultursenator, sagt: »Man muss eben auch ein bisschen klappern, wenn man Geld braucht.« Vom Dahinscheiden der »Ratten« habe er nichts mitbekommen. Es gab keine Presseerklärung, keine Traueranzeige. Keiner hat’s gemerkt.
Begonnen hatte alles Ende 1992, nachdem an der Volksbühne der schottische Regisseur Jeremy Weller, frei nach Camus, »Die Pest« aufgeführt hatte. In Berliner Suppenküchen hatte er nach Statisten suchen lassen. In Abels Diplomarbeit lesen wir von einem Publikumsgespräch nach der Vorstellung, als die Obdachlosen zu ihrer Gage befragt wurden (75 DM pro Auftritt). Auf die Frage, was denn der Regisseur verdient habe, kam als Antwort: »Schläge!«
Roland Brus, damals noch Regieassistent bei Weller, erinnerte sich später: »Je näher das Ende der ›Pest‹ kam, desto größer wurde die Hilflosigkeit, die Aggressionen, hinter der sich die Angst und Verzweiflung, auf die Straße zurückzumüssen, entlud. Als mich die Gruppe dann fragte, mit ihr weiterzumachen, war dies natürlich ein Schrei nach Hilfe. Hier beginnt unsere Arbeit – mit dem Schrei!« Sieben Männer, die eigentlich nichts miteinander gemein hatten, außer dem, was sie nicht hatten: eine Wohnung. Hinzu kam noch etwas Theatererfahrung. Vor allem aber meinten sie, einiges richtigstellen zu müssen. »Verpestet«, das erste Programm, war dann die Gegendarstellung. Eine szenische Collage aus eigenen Gedichten, literarischen Texten und Geschichten aus dem wirklichen Alltag der Unbehausten.
Ein wilder Haufen, der sich da jeden Abend im Keller der Mulackstraße 22 austobte. Mit Mitleid und Sozialromantik hatte das aber nichts zu tun. Die »Ratten« spielten mit dem Paradox: »Ich habe nichts, also habe ich alles. Besitz belastet.« Die Enge des Kellers verhalf den Darstellern zu einer unglaublichen Präsenz. Das Publikum wurde vereinnahmt, war Teil der Aufführung, war doch die Bühne zugleich Wohnort. So mancher Zuschauer merkte also gar nicht, dass das Stück längst begonnen hatte. Eher beiläufig war man von einem »Penner« aufgefordert worden, den Platz zu räumen. Der Mann war müde und wollte sich hinlegen. Irgendwer stellte den Fernseher an; auf einem Bunsenbrenner wurde Suppe gekocht. Eine solche Ignoranz dem Publikum gegenüber sprach sich herum – bis zur Volksbühne, deren Intendant schon bald die alten Komparsen zurückholte, wenngleich Castorf eigentlich nur die Tür öffnete.
Die »Ratten« brachen durch diese Tür. Bis dahin waren Theater vor allem Foren bürgerlicher Repräsentation gewesen, wo man zwar hin und wieder pittoreske Abbildungen sozialen Elends bestaunen durfte – dargestellt jedoch von ordentlich bezahlten Schauspielern, wie Heiner Müller kritisierte. Die »Ratten« vollzogen einen Paradigmenwechsel: Nichts war mehr künstlich, Verzweiflung und Überleben waren nicht nur gespielt. Theater war kein Ort des bloßen Zuschauens mehr, sondern der Erfahrung. Bei den »Ratten« gab es nie einen Sozialarbeiter. »Das erste Obdachlosen-Theater Europas«, erinnerte sich Roland Brus später, »war weder Wärmestube noch Alibi-Auffangbecken, sondern ein Labor für künstlerische und gesellschaftliche Experimente. Das war kein durch Sozialprofis reglementierter Raum.«
Ausgezeichnet mit dem Förderpreis der Akademie der Künste, hatten sich die Obdachlosen ihre Existenz als Schauspieler hart zu erkämpfen. Es galt, die gesamte Lebensführung umzustellen. Eine »Butze« musste her, und wenn es ein Bauwagen war. Wer jeden Tag proben oder öffentlich auftreten will, der kann nicht mehr »Platte machen«. Der kann auch nicht saufen. Probleme, die sich anderen Theatern nicht stellen. Überall passiert es, dass ein Darsteller mal ausfällt, nicht aber, dass er im Knast landet.
Hunderte Zeitungsartikel wurden über die »Ratten« geschrieben; der »Stern« brachte eine Fotostory auf acht Seiten! Rundfunk und Fernsehen berichteten. Nur interessierten sich die Journalisten kaum für die Umsetzung der Stücke, sondern für die Biografien der Darsteller: Wolfgang »Sisyphus« Graubarth, den Hans Modrow einst zu sich in die Berliner FDJ-Bezirksleitung geholt hatte, der lange auf der Straße lebte, weil seine Frau sich in der gemeinsamen Wohnung umgebracht hatte. Oder Rolfi, der in Detlev Bucks Männerpension einen Knacki spielte, der zu Jenny Elvers auf den Gefängnishof ruft: »Gib der Katze Luft!« Und nicht zu vergessen Uwe »Hunni« Hundertmark, der beim Schnorren ein wahrer Meister war. Das linke Bein hatte er bei der »Sitzung« immer nach vorne gestreckt, sodass sein rechter Unterschenkel darunter verschwand – der einbeinige Bettler! Mehr Geld durch mehr Gebrechen!
Gastspielreisen führten die »Ratten« durch halb Europa. Das Ensemble spielte in Prag, Parma und Paris, aber eben auch in Eberswalde; im Schauspielhaus Hamburg wie auch in Gefängnissen, bei Fachtagungen oder, wie gesagt, in der Treptower Bekenntniskirche. Und manchem stieg der Erfolg zu Kopf. Wer probt, hat Angst.
Andreas Abel erinnert sich, dass Roland Brus in die Kantine der Volksbühne kam, um zu fragen, was denn los sei. Am Tisch saß Hunni, in einem weißen Seidenhemd und mit Designer-Sonnenbrille. In einer Zeit, in der Armut ein ästhetisches Problem war – und heute noch ist –, in der Menschen ihre Gefühle nur noch chiffriert preisgeben, die von Überfluss und Vereinsamung gezeichnet ist, lebten die »Ratten« den emotionalen Exzess. Nebenbei ging eine Scheibe zu Bruch, oder die Unbedachten prügelten sich – zum Beispiel mit dem Regisseur Leander Haußmann.
Ende der 90er Jahre ließ die öffentliche Wahrnehmung deutlich nach. An der Volksbühne sorgte längst jemand anderes für Spektakel: Christoph Schlingensief. Im Jahr 2002 beendete die Volksbühne die Kooperation. Mit Hilfe des Vereins »Freunde der Ratten« fand die Gruppe schließlich Asyl auf dem alten RAW-Gelände in Friedrichshain. Die Homepage der Ratten 07 zählt seitdem immerhin 30 Produktionen auf. Eine Resonanz aber wie in den 90er Jahren blieb aus.
Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte liegt Uwe Hundertmark begraben, der über viele Jahre dem Spiel der »Ratten« seinen Stempel aufgesetzt hat, auch in »Lumpazi Vagabundus« nach Johann Nestroy. Auf Hunnis Grabstein steht ein Zitat aus seiner Rolle: »Weckt mich, wenn ich durstig bin!«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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