- Wirtschaft und Umwelt
- Inflation in der Türkei
Die Flucht aus der Lira
Seit der Wiederwahl Erdoğans hat die türkische Währung drastisch an Wert verloren
Yalçın Karatepe fragte dieser Tage am Anfang seiner Kolumne in der linken Zeitung »BirGün«, woran man eigentlich sehen könne, dass die Wahl vorüber sei. Die Antwort: an den Devisenkursen. Denn nun gebe es für die Herrschenden keinen Grund mehr, die Kurse zu drücken. Das war der Stand vom 8. Juni. Vom Tag nach dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl, also dem 29. Mai, bis dahin war der Dollarkurs im Verhältnis zur türkischen Lira bereits um rund 18 Prozent teurer geworden – und seither hat er weiter zugelegt.
Die Wechselkurse sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass die türkische Wirtschaft vor einem Sturm steht. Dabei hatte es bis zur Wahl gar nicht so schlecht ausgesehen. Die Inflation war über Monate leicht gesunken und im Mai sogar unter die Marke von 40 Prozent gerutscht, nachdem sie im vergangenen Jahr zeitweilig sogar rund 80 Prozent betragen hatte.
Der Fall der Inflationsrate beruhte zum großen Teil darauf, dass die Zentralbank die Devisenkurse stabil hielt, indem sie ihre Währungsreserven gegen Türkische Lira tauschte. Zudem gab es einen weiteren Grund: Im Vorfeld der Wahl wurde vor der Küste im Schwarzen Meer Erdgas entdeckt. Jedoch muss man wissen, dass vor jeder Wahl die Regierungen in der Türkei behaupten, es sei gerade irgendwo im Osten der Türkei oder vor ihren Küsten Öl oder Gas gefunden worden. So etwas stimmt die Wähler*innen hoffnungsfroh. Nach der Wahl hört man dann nichts mehr davon.
Gleichzeitig machte Erdoğan im Mai für die türkischen Haushalte das Erdgas kostenlos. Das senkte die Inflationsrate gleich um 2,4 Prozent. Außerdem gab es tatsächlich Menschen, die meinten, das sei nun das soeben erst entdeckte Erdgas aus dem Schwarzen Meer. Paradoxerweise dürfte der Türkischen Lira und damit auch Erdoğan geholfen haben, dass viele Investoren von einem Wahlsieg der Opposition ausgingen. Kurz vor der Wahl machte die Börse schon einmal einen Luftsprung und die Risiko-Aufschläge für türkische Anleihen gingen zurück.
Kaum stellte sich am 14. Mai heraus, dass Erdoğan die besten Aussichten auf einen Sieg im zweiten Wahlgang hatte, begann die Flucht aus der Lira. Die Zentralbank stemmte sich mit Devisenverkäufen und allen möglichen Tricks dagegen. Selbst die Möglichkeiten, sich über die Kreditkarte rasch Bargeld zu verschaffen, wurden begrenzt, um die Türk*innen möglichst davon abzuhalten, ihre Lira schnellstmöglich in die Wechselstuben zu tragen. Nach der Stichwahl brach dann der Damm.
Das Misstrauen in Erdoğans Wirtschaftspolitik sitzt bei den Finanzinvestoren tief. Das hat mit seinem ganz eigenen Verständnis von Inflationsbekämpfung zu tun. Seit Jahren pocht Erdoğan auf Zinsraten unterhalb der Inflationsrate. Da mag es eine Rolle spielen, dass Zinsen als unislamisch gelten. Außerdem ist sich Erdoğan sehr wohl bewusst, dass niedrige Zinsen die Konjunktur antreiben. Zugleich konstatiert er es als Lebenserfahrung, dass immer, wenn die Inflation hoch war, auch die Zinsen hoch waren. Ergo treiben ihm zufolge hohe Zinsen die Inflation an. Damit steht Erdoğan mit seiner Auffassung im Widerspruch zur allgemeinen ökonomischen Lehrmeinung, derzufolge hohe Zinsen die Inflation eindämmen.
Der Anstieg der Wechselkurse wird sich sehr rasch auf die Inflation auswirken. In Dollar oder Euro abgemachte Mieten steigen automatisch, die Last der Auslandsschulden steigt. Schon hat sich ein Importeur von medizinischem Gerät gemeldet und davor gewarnt, dass es zum Jahresende knapp werden könnte. Man könne aber eine Herzoperation nicht einfach verschieben.
Offenbar will Erdoğan aber nun doch gegensteuern. Er hat Mehmet Şimşek zum Finanzminister ernannt, der diese Funktion schon in zwei früheren Kabinetten innehatte. Es ist ungewöhnlich, dass Erdoğan ehemalige Minister recycelt, aber Şimşek genießt im Ausland Vertrauen. Als einziges neues Kabinettsmitglied trat er gleich mit eigenen Vorstellungen an die Öffentlichkeit. Er betonte, die Türkei müsse zu einer »rationalen« und einer »regelbasierten« Wirtschaftspolitik zurückkehren.
Außerdem hat Erdoğan auch den Chefposten der Zentralbank mit Hafize Gaye Erkan nach nur zwei Jahren neu besetzt. Von ihr erwartet man nun, dass sie die Zinsen drastisch anzieht. Die US-Großbank JP Morgan geht von einer Erhöhung von 8,5 Prozent auf 25 Prozent in einem Schritt bereits Ende Juni aus. Die Deutsche Bank hält eine Erhöhung auf 25 Prozent in zwei Schritten im Juli für möglich. Obwohl das noch alles nicht in trockenen Tüchern ist, verlangen türkische Banken bereits bis zu 47 Prozent Zinsen.
Allerdings sitzt die türkische Wirtschaft in der Falle. Ohne höhere Zinsen ist die Lira nicht zu stabilisieren, steigt also die Inflation. Der Ökonom Hayri Kozanoğlu gibt aber zu bedenken, dass die Laufzeit der meisten Kredite für kleine und mittlere Firmen in der Türkei kurz ist und sie durch plötzlich steigende Zinsen bedroht sind. Außerdem stehe einer Zinserhöhung die viel zu niedrige Inflationserwartung der Regierung von 22,3 Prozent entgegen. Diese zu ändern fällt auch deshalb schwer, weil in den nächsten Tagen die halbjährliche Erhöhung des Mindestlohnes beschlossen werden soll. Noch steht der Optimismus der Verkündigung harter ökonomischer Maßnahmen entgegen.
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