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Weltflüchtlingstag: Hilfsorganisationen überfordert
Kriege, Krisen und Klimawandel treiben vor allem in armen Ländern immer mehr Menschen in die Flucht
Rund 110 Millionen Menschen, so schätzen die Vereinten Nationen anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni, sind heute weltweit auf der Flucht. Etwa zwei Drittel von ihnen im eigenen Land. Allein 2022 mussten rund 19 Millionen Menschen zusätzlich ihre Heimat verlassen.
Gleich blieb in dieser Zeit nur eins: Die mit Abstand meisten Menschen finden Schutz in armen Ländern, wo die Versorgung oft prekär ist. In Bangladesch etwa, wo mehr als eine Million geflüchtete Rohingya aus Myanmar leben, mussten die UN ihre Nahrungsmittelhilfen seit März wegen Geldmangels um ein Drittel kürzen. Geflüchtete leben dort unter immer menschenunwürdigeren Bedingungen. »Den Menschen gehen die Optionen verloren«, schätzt Dagmar Pruin, die Präsidentin der evangelischen Hilfswerke Brot für die Welt und Diakonie Katastrophenhilfe, die Lage in den armen Ländern ein.
Nach UN-Angaben sind von den in diesem Jahr benötigten zehn Milliarden US-Dollar für Flüchtlingshilfe bisher gerade einmal 22 Prozent gedeckt. Diese Lücken bedeuten für die Bedürftigen kaum vorstellbare Härten: In Somalia etwa stehen so im Schnitt statt der erbetenen 78 nur 44 Euro-Cent pro Person und Tag für Lebensmittelhilfen zur Verfügung.
Und wer sich an andere Orte retten will, für den ist der Weg gefährlich. Auf den Transitrouten in Zentralamerika, in der Sahara, am Mittelmeer oder in Osteuropa warten mafiöse Milizen, korrupte Sicherheitskräfte, es drohen Pushbacks und Internierung. Das Schlimmste daran ist, dass diese Praktiken zunehmend legalisiert werden oder werden sollen – etwa durch EU-Staaten wie Litauen, das Pushbacks nicht nur seiner Grenzpolizei, sondern kürzlich sogar privaten Milizen gestattete.
Am Freitag hat die Amsterdamer NGO United ihre neue »Liste des Todes« vorgelegt. Seit exakt 30 Jahren dokumentiert die antirassistische Initiative tote Flüchtlinge und Migranten an den Grenzen Europas. Offizielle Stellen zählen erst seit dem Jahr 2014.
52 760 Einträge umfasst die Liste von United. Und heute sind es schon wieder mehr. Denn in der vergangenen Woche ereignete sich das schwerste Unglück im Mittelmeer seit langer Zeit. Bis zu 700 Menschen könnten ertrunken sein, als südlich der griechischen Stadt Pylos ein Flüchtlingsboot sank, das auf dem Weg von Libyen nach Italien war.
Seither verdichteten sich die Hinweise darauf, dass die griechische Küstenwache zuerst einen Notruf ignorierte und später offenbar versuchte, das völlig überladene Boot aus griechischen Gewässern zu schleppen. Sollten sich die Vorwürfe erhärten – es wäre nicht der erste Fall dieser Art. Weil viele der Menschen aus Pakistan stammten, rief die Regierung dort einen Trauertag aus.
Bestraft werden in der Regel nicht die an solchen illegalen Maßnahmen der Migrationsabwehr beteiligten Polizisten. Statt dessen geraten jene, die die Verletzung von Menschenrechten dokumentieren und Notleidende unterstützen, vielerorts ins Visier eines Systems, das darauf abzielt, Mobilität von Menschen mit Gewalt zu kontrollieren. Und die Flüchtlinge selbst erst recht: Neun Ägypter wurden nach dem Unglück von Pylos unter dem Vorwurf der Schlepperei verhaftet.
Griechenland geht gegen Flüchtende mittlerweile mit drakonischer Härte vor. Alle paar Wochen gibt es Berichte über Strafverfahren gegen Menschen, die Boote gesteuert haben, mit denen sie selbst flüchteten. Das Strafrecht ist zu einem der wichtigsten Instrumente geworden, um Flucht, Migration und die Solidaritätsarbeit zu erschweren.
Kein Land der Welt hat heute mehr Flüchtlinge aufgenommen als die Türkei. Sicher sind sie jedoch nicht: Immer lauter ist die Rede von Rückführungen nach Syrien. Afghanen müssen mit einer Auslieferung an die Taliban rechnen. Laut Ramazan Seçilmen, Chef der Behörde zur Bekämpfung von irregulärer Migration, wurden 2022 mehr als 61 000 Menschen nach Afghanistan abgeschoben.
Vor wenigen Tagen einigten sich die EU-Innenminister auf eine gemeinsame Linie für das neue EU-Asylsystem. Kern sind zentralisierte Verfahren in Internierungslagern an den Außengrenzen. Dafür zugelassen wird allerdings nur, wer nicht über einen »sicheren Drittstaat« – wie etwa die Türkei – eingereist ist. Die Folge wird sein: mehr Internierung, weniger Schutz.
Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick nach Kanada. Dort hat die Regierung von Ontario als letzter Provinz ihren Vertrag mit der Bundesregierung über die Inhaftierung von Migranten in der vergangenen Woche gekündigt. Zuvor hatten Quebec und New Brunswick erklärt, dass sie die Verträge mit der Grenzschutzagentur Canada Border Services Agency auflösen. Alberta, British Columbia, Nova Scotia, Manitoba und Saskatchewan waren vorangegangen. Diese Entwicklung ist eine Folge der im Oktober 2021 gestarteten Menschenrechtskampagne »WelcomeToCanada«.
Derweil ist hierzulande die Stimmung häufig: Flüchtlinge – nein danke. In der Stadt Greifswald etwa hat sich am Wochenende bei einem Bürgerentscheid die Mehrheit gegen Containerunterkünfte für Flüchtlinge auf städtischen Grundstücken ausgesprochen. 65,36 Prozent stimmten nach dem vorläufigen Endergebnis am Sonntag mit »Nein«.
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