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Ein langer Sommer
Auf der Suche nach der Pause
Der Sommer ist da und kein Urlaub in Sicht. Weil die Zäsur fehlt, die erklärte Pause, die den Sommer vom Frühling und vom Herbst trennt, versuche ich, so gut ich kann, den arbeitsamen Aufenthalt in der Stadt in etwas umzudefinieren, das sich ansatzweise so anfühlt wie eine Pause – neue Rituale einzuführen, die ihn vom Rest des Jahres trennen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Lustigerweise sind diese neuen Rituale häufig welche, die mir schon aus meiner Kindheit bekannt sind, und so werden diese arbeitsamen Monate tatsächlich zu einer Zeit, die mich am ehesten an lange und irgendwie einsame Schulferien erinnert.
Das kann auch damit zu tun haben, dass ich seit knapp vier Monaten keinen Alkohol mehr trinke – Saufen war buchstäblich mein halbes Leben lang mein einziges Hobby gewesen und etwas, das mir ebenso wie das Rauchen mein Erwachsensein bestätigte: I can do it, even though it’s bad for me – die ultimative Emanzipation.
Nun fühle ich mich, dieser Emanzipation beraubt, in ein Stadium der Voradoleszenz versetzt – ebenso in ein fast greisenhaftes Stadium. Ich treffe mich regelmäßig mit einem Freund zum Liedersingen, was mir maximal peinlich ist und mich maximal berührt. Kürzlich gesellte sich noch sein bettlägeriger Nachbar dazu. Mehrstimmige Gesänge assoziiere ich mit kindlichen Nachmittagsaktivitäten wie auch mit Beschäftigungstherapie im Altersheim.
Ich versuche außerdem, meine Nachbarschaft so wenig wie möglich zu verlassen. Die allernächste Umgebung wird zum Mikrokosmos, der alles beinhaltet, was man sich zu erleben wünschen kann. Ich kreise um den Oranienplatz und entscheide mich jeden Tag für eine andere der drei bezahlbaren Lunch-Optionen. Lunchend treffe ich zufällig die Boys aus meiner benachbarten WG (Jahrgang 2000) oder meine fast 70-jährige Freundin, deren Mutter eine Affäre mit einem Priester aus dem Vatikan hatte. Ab und zu sitzt am Nebentisch auch ein B-Promi oder eine Person, mit der ich arbeite.
Über all diese Begegnungen legt sich ein flirrender Schleier. Unterstützt wird meine provinzielle Antriebslosigkeit durch eine drastische Fatigue, eine verlängerte Frühjahrsmüdigkeit oder eine Entzugserscheinung des fehlenden Alkohols – oder ist es der niedrige Blutdruck, der mich bei jeder Bewegung Sternchen sehen lässt?
Um meinen Blutdruck anzukurbeln, verbringe ich ganze Tage, Wochen eigentlich, im Prinzenbad und schwimme an guten Tagen elf Bahnen (meine Glückzahl) und an besseren 22. Wenn meine vom Chlor roten Augen eine Pause brauchen, dann hänge ich auf den Terrassen herum, spiele mit dem Gedanken, die neue Topless-Regelung auszuprobieren, und entscheide mich dann dagegen. Meistens kommt gerade dann, wenn ich mich fast durchgerungen habe, meinen Badeanzug zu lüften, eine Person vorbei, die ich kenne: einer der Boys, die 2000 geboren sind, ein B-Promi – oder, schlimmer noch, eine Person, mit der ich arbeite.
Mich für lange Zeit im Prinzenbad aufzuhalten, ist ebenso eine Erinnerung an meine Kindheit, in der man sich schon als Kindergartenkind auf den Liegewiesen ähnlich verhielt wie heutzutage auf Partys: Man grüßt sich von Weitem, ignoriert sich, verweilt einen Moment und zieht weiter – hoffend, dass der aktuelle Crush zufällig da ist oder eben gerade nicht. Der Weg zum Pommes-Stand ist, wie der Weg zur Bar, eine kleine Reise – im Besitz der Pommes zu sein, ist wie im Besitz des kühlen Drinks, ein echtes Ereignis, denn das erworbene Konsumgut ist wiederum ein Tool für Kommunikation: Man kann, man sollte es mit anderen teilen.
An den Oranienplatz und den Erkelenzdamm erinnere ich mich auf eine ähnliche Art. Kreisend fuhr man mit seinem klitzekleinen Fahrrad den Schotterweg auf und ab und legte sich dabei manchmal auf die Fresse – ein irgendwie erleichterndes Erlebnis, denn endlich war etwas passiert. Die aufgeschürften Knie wusch man sich in dem Steinbrunnen.
Auch der Gemüsestand an der U-Bahnstation Kottbusser Tor war ein Spielort der langen, langsamen und grundsätzlich eben erfrischend langweiligen Sommerferien. Der Stand gehört bis heute dem Vater eines befreundeten Jungen aus meinem Kindergarten. Manchmal hingen wir dort stundenlang ab und aßen Kirschen.
Die provinzielle Langsamkeit des Kreuzberger Sommers wurde neulich durch einen weiteren ereignisreichen Mikrokosmos ergänzt, das Karree am Ende der Naunynstraße. Nach einem Abendessen trafen wir uns dort gegen ein Uhr nachts auf einer Parkbank, um eine Limo vor dem Schlafengehen zu trinken. Bis ungefähr gegen drei unterhielten wir uns und beobachteten dabei das Geschehen: Im ersten Stock wurde eine Party gefeiert, die bunt beleuchtet, schlecht besucht und extrem laut war – gespielt wurden hauptsächlich Indie-Hits aus ungefähr der Zeit, als die Boys aus der WG nebenan geboren wurden. Irgendwann kam die Polizei, relativ unbeeindruckt feierten die wenigen Gäste weiter.
Ein Mann reparierte sein Auto mit Hilfe eines anderen Autos, und eine Gruppe Halbstarker blies Luftballons auf und versuchte mit Heliumstimmen zu sprechen, was nicht besonders gut gelang. Trotzdem öffnete eine leicht bekleidete Frau das Fenster und rief ihnen leicht verführerisch zu, sie sollten abhauen. Mit Heliumstimmen riefen sie ihr bewundernd Komplimente zu, bis einer der Jungs (war es der Alkohol oder das Helium?) sich eine ganze Weile lang übergab.
Ich spazierte die paar Meter nach Hause und trank einen Cappuccino in der Bäckerei gegenüber, die immer offen ist und deren Backwaren nachts immer frisch riechen und dennoch nie warm sind. Ich stand mit drei Taxifahrern am Tresen, die kurz darauf ihre Schicht begannen. Als sie in ihre Taxis stiegen, spazierte ich hellwach nach Hause: Seit meine Tage (und Nächte) nicht mehr durch Alkohol strukturiert sind, fühlt sich jede Tageszeit gleich an.
Am nächsten Tag erwachte ich spät, trank zwei große Mokka und schleppte mich ins Prinzenbad, wo nach elf Bahnen mein Blutdruck endlich angekurbelt und meine Augen hochrot waren. Nachdem ein Teenager mich, durchs Nichtschwimmerbecken zu meinem Handtuch watend, von hinten angesprungen und untergetaucht hatte (was in mir Todesangst auslöst), ging ich zum Bademeister und tat etwas, das ich sonst nie tue: Ich beschwerte mich und sagte, ich wäre dafür, endlich ein paar Verkehrsregeln im Schwimmbecken einzuführen. Ich dachte daran, was für ein schwieriger Job es ist, Bademeister zu sein: Todlangweilig, und doch geht es um Leben und Tod.
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