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Asyl in der EU: Jumbos abgestürzt
Sheila Mysorekar über das Asylsystem der EU
>>> EILMELDUNG <<< Unweit der griechischen Küste sind zwei Jumbo-Jets ins Meer gestürzt. Die Maschinen befanden sich auf dem Weg von Libyen nach Italien. Die griechische und die italienische Küstenwache waren sofort zur Stelle. Dennoch kam für rund 600 Passagiere jede Hilfe zu spät, unter ihnen viele Kinder. Die Unglücksursache ist noch unklar. Bereits nach dem ersten SOS hatten Italien, Griechenland und Malta unverzüglich Hilfe angeboten. »Solch eine Tragödie darf sich nie wieder ereignen«, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz. »Wenn Flüge zu unsicher sind, dann werden wir unverzüglich für sichere Reiserouten sorgen.«
Ein Boot ist kürzlich auf dem Mittelmeer gesunken – mit so vielen Menschen an Bord wie in zwei Jumbo-Jets gepasst hätten. Aber anders als bei jedem Flugzeugabsturz kennen wir nicht den Namen des Piloten, nicht die Nationalitäten der Verunglückten, nicht die technischen Details der Havarie. Kein ARD-Brennpunkt, keine Sondersendungen, keine Titelseiten. Nein, Tote im Mittelmeer sind Routine. Irgendwelche Afrikaner und Araber. Hätten sie halt zuhause bleiben sollen.
Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem Netzwerk postmigrantischer Organisationen.
Nach jedem Massentod im Mittelmeer führen Politik und Medien die immer gleiche Trauersimulation durch: Große Bestürzung – nie wieder – die Schlepper sind schuld – aber die Pull-Faktoren – Grenzschutz Stacheldrahtfestung. Ende der Diskussion. Europa praktiziert strategisches Nichtstun, unterstützt von Medien mit routiniertem Wegschauen. Andrew Stroehlein von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kommentierte auf Twitter: »Massenertränkungen im Mittelmeer sind für die EU das Gleiche wie Massenschießereien für die USA. Es passiert immer wieder. Und jedes Mal tun die Politiker, als seien sie deswegen besorgt, aber die Regierungspolitik, die die Wurzel dieses Problems ist, bleibt unverändert.«
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Pull-Faktoren bei Flüchtenden unerheblich sind, auch wenn Leute wie der CDU-Politiker Jens Spahn das dreist behaupten. Ja, lieber Jens Spahn, natürlich sagt sich jeder Syrer unter Assads Bombenhagel: »Ich habe gehört, dass es in Deutschland Sozialhilfe gibt! Also dann werde ich sofort meine Arbeit aufgeben, mein Auto verkaufen, das Geld einem Schlepper in die Hand drücken, mit meiner Familie zu Fuß nach Libyen gehen, dort in ein seeuntüchtiges Schlauchboot steigen, bei meiner Ankunft in Europa von Frontex-Schergen verprügelt werden, denn am Ende der Reise winkt eine Sozialwohnung in Duisburg und 502 EUR Bürgergeld!«
Der »Asylkompromiss«, ein eierloses Einknicken vor den faschistischen Regierungen Italiens und Ungarns, wurde am Tag der Verkündung in der 20 Uhr-»Tagesschau« gerahmt von einem langen Beitrag über einen Syrer, der aus ungeklärten Gründen auf einem französischen Spielplatz auf Kinder eingestochen hatte. Dieser Beitrag bekam genauso viel Platz wie der Asylkompromiss, damit auch jeder Idiot verstand, dass wir diese gefährlichen Leute nicht nach Europa reinlassen wollen. Geht’s noch?!
Überhaupt würde ich gerne wissen, wieso immer von »Migranten« die Rede ist und nicht mehr von »Flüchtlingen« oder besser noch »Schutzsuchenden«? Die Leute migrieren nicht einfach aus Spaß. Sie fliehen vor Krieg und Unterdrückung. Und nur deswegen gehen sie das maximale Risiko ein, auf dem Weg in ein sicheres Land zu ertrinken.
Archäolog*innen der Zukunft werden Massen von Menschenknochen aus dem Mittelmeer heben, in Archiven darüber lesen und sich wundern über die Schlagworte, die einer düsteren Vergangenheit angehören: Illegale, Pull-Faktoren, Überfremdung. Sie werden den logischen Schluss ziehen: Dies waren rituelle Menschenopfer für die heilige Grenze des weißen Europas. Und sie werden sich ekeln vor uns, so wie wir vor den Fanatikern, die Hexen verbrannt haben.
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