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Wagner-Aufstand: Interne russische Angelegenheit
Der Aufstand der Wagner-Söldner ist pro forma beendet – und lässt viele Fragen offen
Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, twitterte, er beobachte die aktuelle Situation in Russland »genau« und stehe in Kontakt mit anderen Staats- und Regierungschefs der EU und G7-Partnern. Mit denen – also auch mit dem US-Präsidenten Joe Biden und Kanzler Olaf Scholz – sei er sich einig: »Das ist eindeutig eine interne russische Angelegenheit.«
Richtig, dass sich der Westen aus dem von Jewgeni Prigoschin versuchten Putsch und dessen Bereinigung heraushält. Doch ist dieser weitere und höchst gefährliche Versuch, die Instabilität Russlands zu befördern, nicht nur von nationaler Bedeutung. Seit dem von Präsident Wladimir Putin angeordneten Überfall auf die Ukraine vor gut eineinhalb Jahren ist Russland, das größte Land und – gemessen an seinen Bodenschätzen – reichste Land der Erde, das zudem über die größte Anzahl gefechtsbereiter Atomwaffen verfügt, dabei, in Rekordzeit zu einem sogenannten gescheiterten Staat zu werden.
Man kann nun, auch weil die unmittelbare Gefahr vorüber scheint, trefflich darüber streiten, ob die Einnahme der Garnisonen Rostow und Woronesch sowie der knapp vor der russischen Hauptstadt von Prigoschin gestoppte Marsch auf Moskau ein mit anderen heimlich-oppositionellen Kreisen abgesprochener Putschversuch oder »nur« eine von den Wagner-Söldner betriebene Meuterei war. Letzteres gab es in der russischen Geschichte mehrfach. Oft meuterten Kosaken, die Matrosen von Kronstadt zeigten einen eigenen Willen, auch Tschapajews rote Reiter widersetzten sich den Anweisungen der politischen und militärischen Zentrale. Frischer sind die Erinnerungen an die Militärrevolte im Dezember 1991. Sie schlug zwar fehl, doch beschleunigte der Ungehorsam den Untergang der Sowjetunion.
Obwohl Prigoschin in seinen Botschaften ziemlich klar die Kriegslügen Moskaus benannte, hatte der Söldnerchef, der mit bis zu 50 000 seiner Männer in der Ukraine kämpfte, keine friedensstiftenden Absichten. Er wollte den Feldzug in der Ukraine anders, effektiver und mutmaßlich noch brutaler führen, als es die korrupte Militärführung in Moskau vermag. Somit war Prigoschins Vorgehen eine Kampfansage auch an die politische Führung des Landes. Er stellte sich zur Überraschung vieler gegen Putin, dessen – relativ rasche, doch nur verbale – Strafandrohungen gegen die Wagner-Kräfte schneller verhallten, als sie sich verbreiten ließen.
Dass Putins Geheimdienste – im Gegensatz zu denen in Washington – nicht darauf vorbereitet waren, dass die regulären russischen Streitkräfte sich den Meuterern nicht entgegenstellten, dass Menschen in Rostow den »Wagnern« zuwinkten und die meisten Moskauer offenbar gleichgültig auf die Schreckensmeldungen reagierten, zeigt die Schwächen der internen Sicherheit Russlands, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Moral von Land und Armee. Putins Herrschaft schwindet.
Putin wurde stets ein enges Verhältnis zu Prigoschin nachgesagt. Das Meiste davon gab nur flotte Überschriften her. Es stimmt, die Bekanntschaft zwischen Prigoschin und Putin geht weit zurück, beide wurden in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren, sie waren für einander nützlich. Bisher. Beide kamen aus schlichten Verhältnissen, hatten danach einen sehr unterschiedlichen Werdegang. Als Putin noch aufstrebender Geheimdienstmann im Auslandseinsatz war, saß Prigoschin im Gefängnis. Nach eigenen Angaben zehn Jahre lang. Danach machte er einen Imbisstand auf und bewies allerlei Geschick im russischen Raubtier-Kapitalismus, betrieb noble Restaurants, in die Staatsmann Putin auch ausländische Potentaten zum Essen einlud. Prigoschin verdiente am Schulessen-Catering, bald richtete er Empfänge im Kreml aus und wurde in bunten Medien zu »Putins Koch«. Putins Fürsprache brachte ihm großzügige Staatsbank-Kredite und einen Versorgungsauftrag für die russischen Streitkräfte ein. Was den Politiker und den Geschäftemacher auch eint, sind zahlreiche Korruptionsvorwürfe, die der weggesperrte Oppositionelle Alexej Nawalny erhob.
Prigoschins wichtigste Aufgabe und Ertragsquelle ist das Kommando über die Wagner-Truppe. Das ist eine um 2014 nach US-Vorbild gegründete nichtstaatliche paramilitärische Organisation. Sie ist zwar laut russischem Gesetz illegal, doch eine für den Kreml zu Durchsetzung außenpolitischer Interessen wichtige Streitmacht – bestens ausgerüstet, erfahren im Führen hybrider Kriege und anderer verdeckter Operationen vor allem auf dem afrikanischen Kontinent und im arabischen Raum. In Syrien und Libanon verbreiteten sie Angst und Schrecken, in der Sahel-Zone übernehmen sie immer mehr die militärische Kontrolle. Die Söldner morden, foltern, rauben und schmuggeln ungestraft, sie stützen oder stürzen regionale Regimes, führen Desinformationskampagnen. Mehr oder weniger im Auftrag der russischen Regierung, doch stets zugunsten von Prigoschins Reichtum und Macht.
Diese Einsätze sind für den Kreml unverzichtbar und für den Wagner-Chef ein Faustpfand, um am Leben zu bleiben. Es wird sich zeigen, wie sie unter welchem Kommando fortgeführt werden.
2022 wurde die Wagner-Armee zu einer wichtigen Kraft im Krieg gegen die Ukraine – und immer mehr zum Gegenspieler der russischen Armee. Prigoschin rekrutierte seine Leute in Putins Gefangenen-Lager. Der Mann, der es selbst nur bis zum Gefreiten geschafft hat, sich aber für klüger hält als alle Generäle, ließ Mörder, Diebe und Vergewaltiger in Kurz-Kursen drillen und schickte sie in den »Fleischwolf« von Bachmut. Westliche und auch ukrainische Militärs sind nachhaltig entsetzt darüber, mit welcher gnadenlosen Brutalität Prigoschin Menschen in den sicheren Tod trieb.
Derweil kämpfte ihr Bestatter, der im Gegensatz zu Warlords wie dem Tschetschenen-Chef Ramsan Kadyrow keinerlei politische Funktion hat, gegen Russlands Militärführung. Die versuchte dem Söldner-Chef seit geraumer Zeit Zügel anzulegen, ernannte ihm ungenehme Befehlshaber. Schließlich untersagte Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der wohl engste Freund von Putin, den Wagner-Gangstern die Rekrutierungen in Gefängnissen – um sie selbst durchzuführen. Überdies ordnete er an, dass alle Söldnergruppen bis zum 1. Juli einen Vertrag unterzeichnen müssen, der sie der Kontrolle durch das Verteidigungsministerium unterstellt. Der Wagner-Chef weigerte sich. Ergebnis: Das Militär kürzte die Munitions- und andere Lieferungen an die Hilfstruppen.
Prigoschin, der auch über einem Medienkonzern verfügt, steigerte seine ohnehin immer unflätigeren Anti-Kreml-Anwürfe. Er stellte sich vor Dutzende Leichen gerade gefallenen Gefolgsleuten. »Das sind die Väter und Söhne von jemandem«, fluchte er gen Moskau. »Der Abschaum, der uns keine Munition gibt, wird seine Eingeweide in der Hölle fressen.«
Am Wochenende hat er offenbar versucht, die nach seiner Meinung am russischen Frontdebakel in der Ukraine Schuldigen in die Hölle zu schicken. Was er erreichte, war die Zusicherung von freiem Geleit nach Belarus. Ein Freundschaftsdienst des dortigen Machthabers Alexander Lukaschenko? Es heißt, Putin sei erst im Nachhinein von dieser scheinbaren Lösung des Aufstandsproblems informiert worden. Eine Bedingung: Er muss den Verteidigungsminister in die Wüste schicken.
Es steht schlimmer um Russland, als sich das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij je erträumen konnte. Der ukrainische Präsident hat seinem Volk die Rückeroberung aller besetzten Gebiete versprochen. Ob er diesem Ziel am vergangenen Wochenende nähergekommen ist, bleibt abzuwarten.
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