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Messerangriffe: Medien schüren irrationale Ängste
Eine nichtdeutsche Herkunft wird zum Nachrichtenfaktor
Ein Blick in die Nachrichtensuche bei Google genügt. Gibt man dort Messer ein, bekommt man Lokalmeldungen aus ganz Deutschland. »Verstörender Fall: Mann hält Zwölfjährigem Messer an den Hals« lautet der Titel einer Meldung vom Mittwoch. Eine andere lautet: »Mann droht vor Café mit Messer«. Eine bayerische Zeitung fragt: »Junge Männer prügeln sich in Kulmbach: War ein Messer im Spiel?«
Messer gehen in den Lokalmedien immer. Viel muss nicht erklärt werden, jeder weiß, was ein Messer ist. Besonders hoch ist der Gruselfaktor bei der Berichterstattung über Messerangriffe, wenn sie im öffentlichen Raum stattfinden, im Stadtpark, in der Bahn oder im Supermarkt. Das ist gut für die Nachricht, es weckt Interesse. »Ich hätte auch in der Bahn sitzen können«, mag sich denken, wer so einen Bericht liest, und dann auch dranbleiben, um den zweiten oder dritten Bericht zur Tat auch noch zu lesen.
Das kann die Verzerrung von Wahrnehmungen verstärken. Thomas Hestermann, lange bei NDR und Phoenix als Journalist tätig, lehrt mittlerweile an der Macromedia-Hochschule in Hamburg. Gemeinsam mit dem Mediendienst Integration hat er Daten über die Berichterstattung zum Thema Messerkriminalität sowie Daten der polizeilichen Kriminalstatistik untersucht.
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Hestermann forscht seit 2007 zum Umgang von Leitmedien mit Einwanderung und Kriminalität. »Nie zuvor haben wir in unserer Langzeitanalyse so viele Beiträge über Gewaltdelikte in Deutschland erfasst wie 2023«, erklärt der Professor. Häufig gehe es dabei um Messerangriffe, »insbesondere, wenn die
Tatverdächtigen ausländische Männer sind«. Die reichweitenstärksten Fernsehsender und die größten Tageszeitungen zeichneten damit ein Bild, »das von der
polizeilichen Kriminalstatistik stark abweicht.«
Für die jetzt vorgestellte Medienanalyse haben der Mediendienst Integration und Hestermann berichte aus je einer Woche von Januar bis April gesammelt. 81 von 645 Berichten, in denen es um Gewaltkriminalität geht, drehen sich um Messerangriffe. In den erfassten Medienberichten sind tödliche Delikte überrepräsentiert, mehr als die Hälfte der Opfer von Messerangriffen starben. Die Zahl passt nicht gut zu den regionalen Polizeistatistiken. Eine bundesweite Statistik gibt es nicht. In Berlin wurden etwa 90 Prozent der Opfer von Messerangriffen leicht oder gar nicht verletzt. 0,4 Prozent starben bei solchen Attacken.
Ein weiteres Problem ist die Nennung der Herkunft von Tatverdächtigen. In Berlin etwa kommt etwas mehr als die Hälfte von ihnen nicht aus Deutschland. Trotzdem wird die Herkunft besonders oft bei Nichtdeutschen genannt. In etwa einem Drittel der untersuchten Beiträge wird die Herkunft genannt, bei ausländischen Tatverdächtigen in über 80 Prozent der Berichte. Hestermann führt das auf eine Diskursverschiebung durch Rechte zurück. Begriffe wie »Messermigrant« tauchten zwar nicht in Leitmedien auf, rechtspopulistische Auswahlmuster würden allerdings übernommen.
Hestermanns Fazit fällt gemischt aus. Er verweist auf ein fehlendes bundesweites Lagebild der Polizei. Fakt sei, dass viele männliche Jugendliche, unabhängig von ihrer Herkunft, Messer bei sich trügen, dies zeigten Befragungen schon seit Jahren. Als Täter würden in den Medien allerdings zu häufig jugendliche Migranten präsentiert. »Eine Berichterstattung, die in Deutschland lebende Menschen ausländischer Herkunft pauschal als Risikofaktoren beschreibt, schürt irrationale Ängste«, erklärt Hestermann. Dadurch werde der gesellschaftliche Zusammenhalt belastet, so das Fazit der Analyse. Präventionsprogramme wie etwa der Berliner Polizei unter dem Motto »Messer machen Mörder« und Berichte, die für Gefahren sensibilisierten, könnten helfen und »letztlich Leben retten«.
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