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Henstedt-Ulzburg-Prozess: Staatsanwalt sieht Angriff auf Antifa
Im Prozess zur Unfallfahrt mit tonnenschwerem Pick-up verstrickt sich der Angeklagte in Widersprüche
Viel hat Melvin S. zu sagen. Über seine angeblich gar nicht rechtsextreme Gesinnung, über seine angeblich lauteren Beweggründe. Doch wenn es um den entscheidenden Moment geht, der dem ehemaligen AfD-Mitglied eine Anklage wegen versuchten Totschlags eingetragen hat, dann beruft sich der 22-Jährige auf eine Erinnerungslücke. »Ich weiß nur noch, dass ich zwei Bumms mitbekommen habe«, sagt der Auszubildende. »Plötzlich war ein Mensch auf meiner Motorhaube.«
Seit Montag muss sich S. vor der Jugendstrafkammer im Landgericht in Kiel für die Tat verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, mit dem Auto gezielt und ungebremst auf Teilnehmer*innen einer Kundgebung gegen die AfD zugefahren zu sein. In Henstedt-Ulzburg vor den Toren Hamburgs war das, im Oktober 2020, als die Rechtsaußenpartei eine Veranstaltung im Bürgerhaus abhielt und sich draußen Gegendemonstrant*innen versammelt hatten.
Auch zum Prozessauftakt kommen mehr als 100 Menschen, um bei einer Dauerkundgebung vor dem Gerichtsgebäude ihre Solidarität mit den von S. verletzten Antifaschist*innen auszudrücken. Und um eine zentrale Botschaft zu wiederholen: »Henstedt-Ulzburg war kein Unfall.« Was die Polizei zunächst nicht hatte wahrhaben wollen, sieht heute auch die Staatsanwaltschaft so.
Laut Anklage soll Melvin S. den tonnenschweren Pick-up seiner Mutter erst auf den Bürgersteig gelenkt haben, wo er zwei Männer angefahren und schwer verletzt hat. »Dem Angeklagten war bewusst, dass die Zeugen durch die Kollision mit seinem Pkw tödlich verletzt werden könnten, und er nahm dies als Folge seines Handelns jedenfalls billigend in Kauf«, trägt Staatsanwalt Lorenz Frahm vor. Dann habe S. erneut Gas gegeben, um auf weitere Menschen zuzuhalten, die rund 30 Meter entfernt gestanden hätten. Eine Demonstrantin habe sich nicht mehr retten können und beim Aufprall auf den VW Amarok ebenfalls schwere Verletzungen erlitten.
Ihm tue das alles sehr leid, beteuert S. nun. »Ich kann nur sagen, dass ich mich falsch verhalten habe.« Von einem gezielten Angriff aber will er nichts wissen. Eine »Panikreaktion« sei es gewesen. Er und seine drei Freunde, mit denen er sich die linke Kundgebung lediglich habe anschauen wollen, seien argwöhnisch beobachtet und als »Scheißnazis« beschimpft worden. Und nachdem man sie zum Gehen aufgefordert habe, seien ihnen »acht bis zwölf Vermummte« zu ihren Autos gefolgt und hätten schließlich einen von ihnen geschlagen. »Ich hab gedacht, die schlagen ihn jetzt tot«, erzählt der Angeklagte. Vielleicht hätten sie sogar Molotowcocktails werfen können, glaubt er. Losgefahren sei er zum »Abschrecken«.
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Auf kritisches Nachfragen des Gerichts schrumpft dieses Horrorszenario allerdings immer mehr in sich zusammen. Zwei Schläge habe er mitbekommen, nicht mehr. Die angeblichen Verletzungen bei seinem Freund: eine Rötung im Gesicht. Und Molotowcocktails habe er mal im Fernsehen gesehen, beim G20-Gipfel in Hamburg, aber nicht in Henstedt-Ulzburg.
Es ist nicht das einzige Mal, dass der Angeklagte von der Jugendstrafkammer in die Enge getrieben und mit Widersprüchen in seiner Darstellung konfrontiert wird. Erst behauptet er, dass er und seine Begleiter »aus politischem Interesse« zu der Kundgebung gegangen seien und sich eigentlich ganz unauffällig verhalten hätten. Dann muss er einräumen, dass er in einer Nachricht von »Zecken glotzen« geschrieben hatte. Dass er vor den Demonstrierenden mit einer Flasche »Reichsbrause« posierte, einer von dem Thüringer Neonazi Tommy Frenck produzierten Limonade in NS-Optik. Und dass einer seiner Kumpel Aufkleber des rechtsextremen Kampagnennetzwerks »Ein Prozent« dabei hatte.
Ein Rassist, meint Melvin S., könne er schon deshalb nicht sein, weil sein Hausarzt ein Schwarzer sei und er Arbeitskollegen mit Migrationshintergrund habe. Warum er dann in einer Whatsapp-Nachricht über »Kanaken« geschimpft und das »Aussterben der weißen Menschen« beklagt habe? »Das ist eine harte Aussage, die ich heute nicht mehr treffen würde.«
Kurz nach der Tat ist der Angeklagte aus der AfD ausgetreten. Er habe fortan weder mit Links- noch mit Rechtsextremismus etwas zu tun haben wollen, erklärt er. Dass er vor seinem Austritt mit dem AfD-Kreisvorsitzenden und heutigen schleswig-holsteinischen Vize-Landeschef Julian Flak gesprochen hat, räumt er wiederum erst auf Nachfragen ein. »Er hat auch gesagt, dass Austreten eine gute Idee wäre.« Die Idee, betont er, sei aber seine eigene gewesen.
Für den Prozess sind derzeit 14 weitere Verhandlungstage bis Oktober angesetzt.
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