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25 Stunden
Wer an der Uhr gedreht? Olga Hohmann sieht nach
Zeit messen zu können, kann eine unangenehme Angelegenheit sein. Ein Freund erzählte mir neulich, dass der menschliche Organismus in Wirklichkeit nicht für einen 24-Stunden-Rhythmus ausgelegt sei – stattdessen täte ihm ein 25-Stunden-Rhythmus viel besser. Dass der Acht-Stunden-Schlaf ohnehin eine Erfindung des kapitalistischen Systems ist, ist kein Geheimnis. Mein Psychoanalytiker erinnert mich, wenn ich mich über meine Schlaflosigkeit beklage, regelmäßig daran, dass die Menschen im Mittelalter nachts mehrmals aufgestanden waren, um sich die Bäuche vollzuschlagen.
Es hilft mir nicht viel – was allerdings hilft, sind die Schlaftabletten, die ich seit zwei Jahren nehme, obwohl man sie maximal zwei Wochen am Stück nehmen soll. Die Abhängigkeit stört mich nicht besonders – denn ich gehe ja nicht davon aus, dass die »Schlafsterne« in der nächsten Zeit aus dem Sortiment verschwinden. Die Verpackung ist hübsch und anachronistisch, sie sieht irgendwie harmlos aus: orangefarbene Sterne auf dunkelblauem Grund.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
Schon als Kind hatte das Problem der messbaren Zeit in meine ohnehin ausgeprägte Trotzphase hineingespielt. Als ich meine erste Armbanduhr bekam, wurden die cholerischen Anfälle besonders schlimm. Sie war rot und hatte eine gelbe Schlange auf dem Armband aufgedruckt, die sich selbst verschlang. Das Ouroboros-Symbol, das auch mit Unendlichkeit zu tun hat: Die Schlange beißt sich in den Schwanz. Ein Begriff, der zwar auf ein Phänomen aus der Biologie zurückgeht, aber vor allem in der altägyptischen und in der altgriechischen Ikonografie verankert ist und seitdem als Symbol überall auftaucht. Meine Freundin J. zum Beispiel hat ein Ouroboros-Tattoo an der linken Fessel. Die Schlange erinnert natürlich ebenfalls an Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies – der Beginn der Scham. Als ich jedenfalls meine erste Armbanduhr bekam, lernte ich schnell, die Uhr zu lesen. Anfangs konnte ich mich allerdings häufig nicht konzentrieren, wenn ich dabei beobachtet wurde. Dann musste ich mich unter dem Tisch verstecken, um die Uhrzeit herausfinden zu können.
Von dem Moment an, in dem ich lernte, die Uhr zu lesen, war das Leben jedenfalls potenziell big, big Drama. Jeden Tag saß ich, schon Stunden vor der Zeit, zu der die Eltern vereinbart hatten, mich abzuholen, am Fenster meines Kindergartens, eines ehemaligen Parkhauses, und schaute auf die Dresdener Straße. Ich erinnere mich bis heute an den Blick: Das weiß-gelbe (ikonische) »Zentrum Kreuzberg«-Gebäude, die wechselnden Imbissbuden und viele Menschen, manche gingen vorbei, andere hingen stundenlang herum und diskutierten. Einige waren wütend und schrien aufeinander ein, ein bisschen so wie wir Kinder im Kindergarten. Einige versöhnten sich wieder und besiegelten das mit einem Schluck oder zwei – oder mit einer Flasche oder zwei.
Immer wenn ein Polizeiauto vorfuhr (ständig), wusste ich, dass die Eltern mich heute nicht abholen würden, denn sie waren gestorben. Umgebracht, wie die Leute in den Krimis, die die Eltern jeden Abend anschauten – und ich, schlaflos von der Türschwelle aus, offensichtlich zu jung, um die Fiktion als solche erkennen zu können, das heißt, um die Geschichte von der Realität unterscheiden zu können, wusste nun, dass die Eltern sterben würden.
Schon vor dem Nicht-Erscheinen der Eltern, die natürlich ohnehin täglich casually late waren, brannte mir vor Angst mal wieder die Sicherung durch. Die Kindergärtnerin riet den Eltern eindringlich dazu, dem Kind die Armbanduhr wieder wegzunehmen, was sie dann auch taten. Unter Tränen verabschiedete ich mich von meiner bösen, verführerischen Freundin, der gelben Schlange. Ich sah sie nie wieder.
Auch wenn ich mittlerweile wieder fast verlernt habe, die analoge Uhr zu lesen, würde ich mir doch wünschen, mein Leben wäre weniger von dem westlich-neoliberalen 24-Stunden-Rhythmus geprägt. Das heißt auch, von der Angst, nachts keine acht Stunden Schlaf zu bekommen und dann tagsüber nicht so zu »funktionieren«, wie das von einem erwartet wird.
Es ist einer der Vorteile daran, dass das Schreiben meine Arbeit ist – und dass ich sie von zu Hause tun kann –, dass ich selbst entscheiden kann, wann ich arbeite und wann ich schlafe. Neuerdings versuche ich zum Beispiel, jeden Tag einen Mittagsschlaf zu machen, weil ich mich direkt nach dem Aufwachen besonders gut aufs Schreiben konzentrieren kann – zweimal am Tag aufzuwachen, ist also durchaus eine Methode, um besonders produktiv zu sein.
Dafür gehe ich jetzt gerne nachts Tee oder Kaffee trinken – am liebsten in dem Nussladen schräg gegenüber von meinem Haus, der 24 Stunden geöffnet ist und in dem nachts besonders viel Betrieb ist. Alle Besucher knacken dort wie ich nachts um zwei stocknüchtern Sonnenblumenkerne und trinken Sahlep, Apfeltee oder einfach Cappuccino. Manche sind dann gerade kurz vor ihrem Schichtbeginn als Lebensmittellieferanten oder Taxifahrer.
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