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Kürzungen in Neukölln: »Das finden wir kacke«
Hunderte protestieren vor dem Rathaus Neukölln gegen Haushaltskürzungen
Es ist sehr warm und sehr voll, als sich am Mittwochnachmittag mehrere Hundert Menschen vor dem Neuköllner Rathaus versammeln. Viel Platz ist dort nicht, die Anwesenden drängen sich bis an die angrenzenden Straßen. Die Linke Neukölln hatte dazu aufgerufen, gegen die Kürzungspläne von Bezirk und Senat zu protestieren. Gefolgt waren diesem Aufruf viele Familien mit Kindern, Sozialarbeiter*innen und Initiativen aus Neukölln.
»Wir als Sozialarbeiter*innen erleben jeden Tag, wie es den Menschen hier in Neukölln geht«, sagt Philip vom Solidaritätstreff Soziale Arbeit. Seine Kollegin Sue berichtet, dass jetzt schon nicht genügend Geld da sei, um den wachsenden Bedarf zu decken. »Die Arbeitsbedingungen in der sozialen Arbeit verschlechtern sich seit Jahren. Es ist eine enorm hohe psychische Belastung, und es werden immer mehr Klient*innen«, sagt sie. Zusätzlich würden Sozialarbeiter*innen immer mehr für eine »Law and Order«-Politik eingesetzt. »Das finden wir kacke!«
Die »Law and Order«-Prioritätensetzung des schwarz-roten Senats beklagt auch der Neuköllner Linke-Politiker Ferat Koçak. »Es wurde gesagt, man wolle Geld in Bildung und Jugendarbeit hier in Neukölln stecken. Stattdessen fließt das Geld in die Kottiwache, in Taser und Bodycams für die Polizei und in Razzien in Shisha-Bars.« Er fordert eine gerechte Umverteilung des Geldes und ruft dazu auf, den Druck auf die Koalition zu erhöhen: »Wir wollen mehr Geld für Soziales statt für die Aufrüstung der Polizei!«
Die Kürzungsvorhaben, die Neukölln veröffentlicht hatte, nachdem bekannt geworden war, dass der Senat im neuen Doppelhaushalt 500 Millionen Euro weniger für die zwölf Bezirke zur Verfügung stellen will, hatte für viel Empörung gesorgt. Denn auf dieser Liste sind neben den Einsparungen im sozialen Bereich vor allem Kinder und Jugendliche von den Kürzungsmaßnahmen betroffen. Und so halten auch einige Kinder selbst gemalte Schilder vor dem Rathaus Neukölln in die Luft. »Wir wollen unsere Wasserspielplätze behalten!« und »Wir wollen keine schmutzigen Schulen« ist dort unter anderem zu lesen. Inzwischen hat Schwarz-Rot 200 Millionen mehr als zunächst veranschlagt für die Bezirke versprochen – immer noch 150 Millionen im Jahr weniger als zuvor.
Die Kürzungsliste des Bezirks lese sich »vor allem wie eins: Verachtung für Kinder und Arme auf einem neuen Niveau«, sagt Claudia Krieg als Elternvertreterin der Neuköllner Elbe-Schule. Knapp 30 000 Kinder und Jugendliche lernen in den Neuköllner Schulen, unter diesen lebe ein großer Anteil in prekären Bedingungen, sagt sie. Vor allem diese jungen Menschen litten unter beengten Wohnverhältnissen, behördlicher Benachteiligung sowie familiären und sozialen Konflikten. Es seien diese Kinder und Jugendlichen, »denen man mit politischen Entscheidungen wie denen, die jetzt im Raum stehen, eine weitere Chance nimmt, ihr Leben unter ohnehin enormem Druck zu meistern«, sagt Krieg.
Hanna nimmt als Anwohnerin an der Kundgebung teil. »Ich bin Sozialarbeiterin, da ist das Geld eh an allen Ecken und Enden zu knapp. Es ärgert mich total, dass ausgerechnet da auch noch gestrichen werden soll«, sagt sie zu »nd«. Die Schere zwischen Arm und Reich gehe sowieso schon immer weiter auseinander. »In so einem Kiez will ich nicht leben.«
Auch die Jugend der Migrant*innenselbstorganisation DIDF (Föderation demokratischer Arbeitervereine) protestiert am Rathaus gegen die Kürzungspläne. »Wir machen gerade die Kampagne ›100 Milliarden für die Jugend‹. Dort geht es auch darum, das Geld statt ins Militär zum Beispiel in Schulen zu investieren«, sagt Roylan Tolay zu »nd«. Das Thema, wofür Geld da ist und wofür nicht, zeige sich in Neukölln genauso wie im Bund. »Die meisten von uns wohnen in Neukölln, wir sind aber berlinweit aktiv«, sagt Tolay.
Linke-Politiker Ferat Koçak weist ebenfalls darauf hin, dass sich die aktuelle Kürzungspolitk vom Bund übers Land bis in die Bezirke durchziehe. »Es ist zu kurz gedacht, nur auf die Landesebene zu schauen«, sagt er zu »nd«. Denn in Neukölln sei es Bezirksbürgermeister Hikel gewesen, der durch seine Kürzungsliste die Prioritäten des Bezirks gesetzt habe. Den Protest gegen den »sozialen Kahlschlag« müsse man nun in allen Bezirken unterstützen. »In einigen Wochen geht es erst richtig los, wenn die Haushaltsverhandlungen auf Landesebene starten.«
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