Anschlag von Hanau: Schleppende Aufarbeitung

Initiative kritisiert Arbeit des hessischen Untersuchungsausschusses zum rassistischen Anschlag

Stark verzögerte Reaktion auf Notrufe, Gefährderansprachen an Verletzte statt psychologischer Betreuung – die Liste der Vorwürfe gegen die Polizei in Hanau wegen ihres Vorgehens in der Nacht vom 19. zum 20. Februar 2020 ist lang. Während ein Rassist in der hessischen Stadt in zwei Bars und einem Kiosk neun Menschen ermordete und zahlreiche weitere teils schwer verletzte, versuchte der 22-jährige Vili Viorel Păun mehrfach vergeblich, den Polizeinotruf zu erreichen. Zuvor hatte er versucht, den Täter mit seinem Auto zu blockieren. Anschließend folgte Păun dem Mörder in der Hoffnung, ihn stoppen zu können – und wurde von diesem wenig später erschossen.

All diese Vorgänge waren Gegenstand der Arbeit eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) im hessischen Landtag. Zwei Jahre nach Aufnahme seiner Tätigkeit hält dieser an diesem Freitag seine letzte öffentliche Sitzung ab. Dabei soll Landesinnenminister Peter Beuth (CDU) befragt werden. Die Initiative 19. Februar Hanau, in der sich Überlebende sowie Angehörige und Freunde der Ermordeten zusammengeschlossen haben, forderte Beuth indes am Donnerstag erneut zum Rücktritt auf.

»Wir erwarten, dass der Minister in der letzten Ausschusssitzung die Verantwortung für die polizeilichen Versäumnisse in der Tatnacht übernimmt«, sagte Newroz Duman, Sprecherin der Initiative, auf einer Pressekonferenz im Wiesbadener Landtag. Sie warf Beuth vor, die polizeilichen Fehler in der Tatnacht »schöngeredet« und keine Verantwortung dafür übernommen zu haben. Noch Wochen nach den Morden hatte Beuth von »exzellenter Polizeiarbeit« gesprochen. Das komme einer »Verhöhnung der Angehörigen und Überlebenden gleich«, kritisierte die Initiative in einer Erklärung. Sie erinnerte zudem daran, dass der Minister »maßgeblich verantwortlich« sei für »rassistische Strukturen innerhalb der hessischen Polizei und damit auch für die 13 der 20 in der Tatnacht in Hanau eingesetzten SEK-Beamten, die an rechtsextremen Chats beteiligt waren«.

Said Etris Hashemi, der den Anschlag schwer verletzt überlebt hatte, zeigte sich enttäuscht von der Arbeit des PUA. Am Mittwoch kritisierte er im Kurzbotschaftendienst Twitter, dass der Ausschuss seinen Abschlussbericht erst nach der Landtagswahl im Oktober vorlegen will. »Sie legitimieren ihre Arbeitsverweigerung, indem sie uns als Hinterbliebene und Überlebende instrumentalisieren und behaupten, das sei nur zu unserem Schutz«, schrieb Hashemi, dessen Bruder Nesar bei dem Anschlag starb.

Dabei sei den Angehörigen und Überlebenden versprochen worden, dass »Hanau eine Zäsur sein« solle und dass »Verantwortung übernommen wird«, sagte Hashemi auf der Pressekonferenz. »Wir haben alle großes Vertrauen gehabt und gedacht, dass es in Hanau anders sein wird als bei anderen Anschlägen.« Doch angesichts einer »Kette des Versagens« sei große Ernüchterung gefolgt.

Newroz Duman erinnerte unter anderem daran, dass Polizisten Überlebende zu Fuß zum nächsten Polizeirevier geschickt hätten, obwohl der Täter noch in der Stadt unterwegs gewesen sei. Dagegen seien es die Angehörigen und Überlebenden gewesen, die mit ihren eigenen Recherchen etwa zum verschlossenen Notausgang eines Tatorts zur Aufklärung beigetragen hätten.

Die Initiative will während der Ausschusssitzung eine Mahnwache vor dem Landtag abhalten. Für den Freitagabend ruft sie zu einer Kundgebung und zu einer Demonstration vom Parlament zum Innenministerium auf. Der Druck der Initiative hatte seinerzeit maßgeblich dazu beigetragen, dass der Parlamentsausschuss überhaupt eingerichtet wurde.

Zur Teilnahme an der Kundgebung ruft auch Die Linke auf. Deren Obfrau im Untersuchungsausschuss, Saadet Sönmez, erklärte, der PUA habe zwar »weitreichende Defizite beim Umgang der Polizei mit Angehörigen und Überlebenden in der Tatnacht und darüber hinaus dokumentiert«. Fakt sei aber auch, dass »die parlamentarische Aufarbeitung immer wieder stockte und so bis heute zahlreiche Fragen nicht geklärt werden konnten«.

Sönmez betonte, es seien vor allem die Mitglieder der Initiative 19. Februar gewesen, die »nicht zuletzt mit Partnern wie Forensic Architecture (FA) Beeindruckendes zur Aufklärung des rassistischen Terroranschlags geleistet haben«. Für die Politikerin ist aber auch klar: »Angesichts des Verhaltens der schwarz-grünen Mehrheit im Untersuchungsausschuss und eines Mangels an Aufklärungswillen in Behörden und bei verantwortlichen Stellen wird auch in Zukunft zivilgesellschaftliches Engagement und außerparlamentarischer Druck nötig sein, um Aufklärung voranzutreiben.« Zudem müsse es endlich auch Konsequenzen für Verantwortliche des behördlichen Versagens geben, fordert Sönmez.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.