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Klimapolitik: Hang zum Schönrechnen
Auch unter der Ampel beschränkt sich die Energiewende bisher weitgehend auf den Strombereich
Aus welchem Jahr und von welchem Bundesminister stammen wohl diese Sätze: »Bislang ist die Energiewende in erster Linie eine Stromwende. Insbesondere im Wärme-, Gebäude- und Verkehrssektor hat die Energiewende noch nicht das nötige Tempo erreicht.« Die Auflösung: Dies schrieb 2019 CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier im zweiten Fortschrittsbericht zur Energiewende. Dass sich diese im Wesentlichen hinter der Steckdose versteckte, war in den letzten Jahren der großen Koalition überall zu hören. Was das aber wirklich bedeutet, stellt sich erst unter der Ampel heraus.
Wenn er seine Energie- und Klimapolitik erklärt, zieht der aktuelle Wirtschaftsminister Robert Habeck gern den Vergleich zur großen Koalition. Wir kämen aus einer Zeit, in der Deutschland sich eingeredet habe, allein mit dem Beschluss, 2045 klimaneutral sein zu wollen, sei dieses Ziel schon erreicht, so der Grünen-Politiker diese Woche beim Jahrestreffen der Erneuerbaren-Branche in Berlin. Damit habe die Ampel-Regierung in zweierlei Hinsicht aufgeräumt: Zum einen habe sie am Anfang der Legislatur eine ehrliche Bilanzierung vorgenommen, im Stil einer »brutalen Härte«. Zum anderen müsse man, wenn Beschlüsse und Realität nicht zueinander passten, entweder die Beschlüsse ändern oder die Wirklichkeit – die Ampel stehe im Unterschied zur Groko für Letzteres.
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Schaut man sich die Wirklichkeit zur bald erreichten Regierungs-Halbzeit der Ampel an, ist festzuhalten: Die Stromwende kommt tatsächlich schneller voran. Dafür sorgten zahlreiche Gesetzespakete – vor allem aber genießt der Ausbau von Wind- und Solarenergie jetzt den rechtlichen Vorrang eines »öffentlichen Interesses«. Und so werden in diesem Jahr in Deutschland mehr als 10 000 Megawatt Photovoltaik neu ans Netz gebracht – doppelt so viel wie 2021 und ein Rekordzuwachs. 2,6 Millionen Anlagen mit einer Leistung von 71 Gigawatt sind mittlerweile installiert, und das nötige Zubautempo ist hier schon erreicht. Schwieriger ist die Lage bei der Windkraft. Hier werden in diesem Jahr voraussichtlich um die 4000 Megawatt hinzukommen. Das sind zwar zwei Drittel mehr als im letzten Jahr, aber die auch hier nötigen 10 000 Megawatt jährlich liegen noch in weiter Ferne.
Von der Kanzler-Vorgabe, in Deutschland müssten täglich vier bis fünf Windräder errichtet werden, hat sich die Branche inzwischen verabschiedet. Ein unerwartet großes Problem zeigt sich aktuell beim Straßentransport fertiger Anlagen, die immer häufiger im Stau stehen.
Vor allem aber stellte sich in der ersten Ampel-Halbzeit mit recht brutaler Härte heraus, dass die Wärme- und die Verkehrswende andere politische Kaliber darstellen als die Stromwende. Die Gräben, die sich um das Heizungsgesetz oder das Verbrenner-Aus auftaten, wurden dabei nicht nur von Populisten aufgerissen. Klimaschutz versteckt sich nicht mehr hinter der Steckdose, sondern bricht in der eigenen Garage oder im Heizungskeller hervor und okkupiert den Geldbeutel. Das ist eine andere Qualität.
Wie stark die Ampel-Regierung diesen wichtigen Unterschied zur Stromwende unterschätzt oder ausgeblendet hat, darüber wird es noch jede Menge Debatten geben. Viel ärgerlicher ist, dass auch Habeck seinem eigenen Imperativ – Beschlüsse ernst nehmen und die Wirklichkeit entsprechend ändern – nicht mehr folgt. Wenn die Wirklichkeit nicht mehr passt, werden jetzt auch bei der Ampel die Beschlüsse geändert. Schlimmster Fall ist die Reform des Klimaschutzgesetzes. Indem sie die Emissionsminderungsziele für die Einzelsektoren Verkehr und Gebäude aufgibt, kündigt die Regierung den bisher verbindlichen Klimaschutz auf, wie Umweltschützer zu Recht kritisieren. Millionen Tonnen CO2 werden zu viel ausgestoßen – bis im Jahr 2030 der Showdown droht.
Wie seine Vorgänger im Amt lässt auch Habeck mittlerweile einen Hang zum Schönrechnen erkennen. So kalkuliert sein Ministerium in einem Hintergrundpapier: Mit dem reformierten Klimagesetz könne die Bundesregierung durch bereits erlassene oder geplante Maßnahmen bis zu 80 Prozent der Klimaschutzlücke im Jahr 2030 schließen. Dies hält Habeck landauf, landab den Kritikern und Skeptikern aus Klimabewegung und Öffentlichkeit entgegen – nach dem Motto: Was wollt ihr, wir sind doch auf einem Weg, das Klimaziel für 2030 zu erreichen.
Tatsächlich aber sind nicht einmal 70 Prozentpunkte durch beschlossene Maßnahmen einigermaßen gesichert. Enthalten ist nämlich beispielsweise die Klimawirkung des alten Entwurfs zum Gebäudeenergiegesetz (GEG), das in den letzten beiden Wochen praktisch neu geschrieben wurde und in jetziger Fassung die Lebensdauer fossiler Heizungen um Jahre verlängert. Fragwürdig für die Klimabilanz sind auch der Trick mit den wasserstofffähigen »H2-ready«-Heizungen im GEG, der LNG-Boom und nicht zuletzt die Tausende Megawatt geplanter Backup-Kraftwerke für das künftige Stromsystem. Auch die nennen sich »H2-ready« und laufen trotzdem noch auf Jahre mit Erdgas statt mit grünem Wasserstoff. Dabei könnte die Ökostrombranche, wenn man sie denn richtig ließe, die Zeiten, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, großteils erneuerbar überbrücken.
Selbst über den enormen Aufschwung beim Solarstrom kann man nicht vollends glücklich sein. Denn je mehr sonnige Tage den Strompreis an der Börse über Stunden auf null drücken, desto mehr Betreiber großer Solarparks beginnen sich zu fragen, wie sie unter solchen Umständen ihre Investition refinanzieren sollen.
Hohe Erneuerbaren-Anteile hinter der Steckdose sind schön und gut. Noch immer beschränkt sich die Energiewende aber auf eine Stromwende. Bei Wärme und Verkehr ist Deutschland unter der Ampel teilweise hinter die Startlinie zurückgefallen.
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