- Kultur
- 50. Todestag
Max Horkheimer: Der Wille zur Freiheit
Am 7. Juli 1973 starb Max Horkheimer. Auch wenn er seine sozialphilosophischen Diagnosen selbst anzweifelte: Die meisten haben sich als haltbar erwiesen
Im Sommer 1973 stirbt Max Horkheimer in einer Klinik in Nürnberg. Trotz täglichen Whiskey- und Medikamentenkonsums ist er 78 Jahre alt geworden. In den 60er Jahren hat Theodor W. Adorno einmal gesagt, »der Max« sei wohl nur deshalb noch am Leben, weil sich all seine Tabletten gegenseitig neutralisierten.
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50 Jahre früher, zu Pfingsten 1923, wird unweit des thüringischen Ilmenau bei der »Ersten Marxistischen Arbeitswoche« der gedankliche Grundstein des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main gelegt. Anhand von Georg Lukács’ »Geschichte und Klassenbewusstsein« sowie Karl Korschs »Marxismus und Philosophie« diskutiert eine Gruppe um Korsch, Lukács, Friedrich Pollock und Felix Weil Begründungsmodelle und praktische Perspektiven innovativer marxistischer Gesellschaftsanalyse. Weil überredet seinen Vater, Geld in eine Stiftung zu investieren, um das Institut zu finanzieren. Es wird 1924 eröffnet und untersucht die Geschichte der Arbeiterbewegung. Weils Freund Pollock wirkt von Anfang an auf der Leitungsebene mit. In den Statuten wird eine Verbindung mit der liberalen Frankfurter Universität verankert, von der man aber keineswegs abhängig ist. Inoffiziell werden Kontakte zur KPD und Sowjetunion gepflegt. Die Arbeit an der Marx-Engels-Gesamtausgabe beginnt als Kooperation zwischen Frankfurt und Moskau.
Pollock ist Wirtschaftswissenschaftler und eng mit dem Philosophen Horkheimer befreundet. Als Studenten haben sie in München die Räterepublik erlebt und, über persönliche Kontakte, auch mittelbar daran teilgenommen. 1931 wird Horkheimer Direktor des Instituts für Sozialforschung. Er funktioniert es in eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung um. Was tun, wenn man mit der Marxschen Theorie die Antagonismen der spätbürgerlichen Gesellschaft analysieren, aber nicht erklären kann, wieso es in der Praxis nicht zur Befreiung kommt? Warum findet der radikale Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus in den kapitalistischen Zentren des Westens keine Massenbasis? In dieser Situation soll eine materialistische Theorie der Gegenwart mit modernsten Forschungsmethoden erarbeitet werden, die »philosophische Konstruktion und Empirie« verbindet. Es geht um die Beziehungen zwischen Wirtschaft, Psychologie und Kultur. Befragungen, Auswertungen und Interpretationen erfolgen mit Blick »auf das Problem der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Widersprüche«, die aus den ökonomischen und herrschaftlichen Bedingungen der Klassengesellschaft hervorgehen und einen mal latenten, mal manifesten Krisenzustand verursachen.
Revolutionäre Aktionen, autoritäre Charaktere
An der Wende von den 20er zu den 30er Jahren ist Horkheimer überzeugt, dass dem Sieg der Nationalsozialisten grundsätzlich »nur durch revolutionäre Aktion entgegenzutreten sei«. Er und Pollock halten Widerstand für nicht ausgeschlossen. »Zu jener Zeit, 1932, wäre meiner Ansicht nach … der Terror zu verhindern gewesen«, schreibt Horkheimer 1970. »Die Arbeiter wären wahrlich willens gewesen, einen ... Generalstreik durchzuführen, kurz ehe Hitler an die Macht kam. Aber leider wollten die Politiker, ... auch der sozialdemokratischen Partei, damals nichts davon wissen.«
Zu Beginn der Weimarer Republik hat die SPD ihre Aufgabe erfüllt, die Arbeiterklasse beim Übergang in eine bürgerlich-kapitalistische Nachkriegsgesellschaft ruhig zu halten. Nun können die Eigentümer der Produktionsmittel sie getrost wieder fallen lassen. Von 1928 bis 1930, als es mit der Republik wirtschaftlich endgültig bergab geht, darf die SPD noch einmal den Posten des Reichskanzlers besetzen.
Doch warum fügen sich die Lohnabhängigen und unterwerfen sich autoritärer Herrschaft? Anhand der Auswertung einer Studie des Instituts über »Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches« von 1930 erarbeitet Erich Fromm die Theorie des autoritätsgebundenen Charakters. Spontaneität und Freiheitsdrang werden durch Verinnerlichung von Herrschafts- und Gewaltverhältnissen blockiert. Autoritäre Charaktere begehren nicht gegen Fremdbestimmung auf, sie identifizieren sich mit ihr.
Im März 1933 stürmt die Gestapo das marxistische Institut. Seit einiger Zeit ist dort auch das Frankfurter Psychoanalytische Institut untergebracht. Marx und Freud: klar, dass das Gebäude im Frankfurter Westend dem neuen deutschen Reich im Weg steht. Doch die Nazis finden nur leere Räume und leere Bankkonten. Horkheimer hat die Geldanlagen der Stiftung längst aus Deutschland abgezogen und in Genf und Paris Zweigstellen des Instituts gegründet. Als der nationalsozialistische Verwaltungsakt im Frühjahr 1933 vollzogen und das Institut aufgelöst ist, bereitet Horkheimer bereits die Emigration seines Teams in die USA vor. In New York kommt das »marxistische Forschungsinstitut« (Stephan Lessenich) an der Columbia University unter. Seine »Zeitschrift für Sozialforschung« erscheint bis 1940 in Paris.
Horkheimer gibt seinem Projekt den Namen »kritische Theorie«. Er will Distanz zu Stalins autoritärem Sowjetmarxismus halten und dem US-Geheimdienst, der die Institutsmitglieder bespitzelt, keinen Anlass geben, gegen die Unterstützung des Instituts im akademischen Betrieb zu intrigieren.
Radikale Herrschaftskritik und die Kehrseite freiheitlicher Errungenschaften
Anfang der 40er Jahre unternimmt Horkheimer gemeinsam mit Adorno eine Neuorientierung der kritischen Theorie als radikale Herrschaftskritik. Der Kapitalismus des freien Wettbewerbs ist zum bellizistischen Räuberkapitalismus der Monopole mutiert, wie Lenin es einst skizziert hatte. Horkheimer unterscheidet 1940 drei Formen des autoritären Staates: Reformismus, Bolschewismus und Faschismus. Der sowjetische Staatssozialismus betreibe die Steigerung der industriellen Produktion am folgerichtigsten. »Die faschistischen Länder bilden eine Mischform. Auch hier wird der Mehrwert zwar unter staatlicher Kontrolle gewonnen und verteilt, er fließt jedoch unter dem alten Titel des Profits in großen Mengen weiter an die Industriemagnaten und Grundbesitzer.«
Dass es nach einer sozialen Umwälzung möglich wäre, Herrschaft abzuschaffen, steht für Horkheimer außer Zweifel. Aber er begründet diese Möglichkeit nicht geschichtsteleologisch, sondern voluntaristisch: Sie hänge vom »Willen der Befreiten« ab. Doch worauf wäre der Wille zur Freiheit gegründet? Die (staats-) kapitalistischen Antagonismen wohnen ja nicht nur der Epoche als Ganzer inne, sie kennzeichnen auch jede*n Einzelne*n. Dass Horkheimer darauf keine Antwort weiß, ist kein Mangel seiner Theorie, sondern ein Indikator für seine Redlichkeit.
Ende der 40er Jahre gibt er in den USA bahnbrechende Untersuchungen zum Antisemitismus heraus, die »Studies in Prejudice«. Was tun – so die neue Frage ab Mitte des 20. Jahrhunderts –, wenn der Zivilisationsbruch der Shoah zur Erkenntnis zwingt, dass die Vorstellung eines autonomen, handlungsmächtigen Menschheits-Subjekts nicht in reale Praxis zu überführen ist? Man kann entweder resignieren und zur praxisabstinenten Philosophie zurückkehren. Oder sich erneut der Aufklärung widmen, indem man »nonkonformistische Intellektuelle« (Alex Demirović) in der akademischen Lehre um sich schart, die dem ›Marsch durch die Institutionen‹ nicht abhold sind, und sie zu radikaler Kritik ermutigt.
Nach langem, quälendem Zögern (und gegen Pollocks Einspruch) entschließt sich Horkheimer zur Rückkehr ins Land der Massenmörder. 1950 kündigt er an: »Was Deutschland betrifft, wird sich das Institut auf den Anti-Amerikanismus, den Ultranationalismus und andere Formen des Ethnozentrismus konzentrieren«. Fortan kümmert er sich um die Arbeit mit einer neuen Generation in der Hochschullehre, in empirischer Forschung, Massenmedien und Erwachsenenbildung. Er behält sich vor, die BRD jederzeit wieder zu verlassen und lehrt bis 1959 immer wieder als Gastprofessor in Chicago. Er bewerkstelligt es, dass in den USA ein Gesetz erlassen wird, das ihm erlaubt, seine US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu behalten, ohne sich in regelmäßigen Abständen dort aufhalten zu müssen. Nach seiner Emeritierung geht er 1959 gemeinsam mit seiner Frau Rose Christine und Pollock in die Schweiz.
Auf dem Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Wirkung beschleicht Horkheimer ein Unbehagen an seinen vermeintlich »orthodox-marxistische[n] Diagnosen« aus der »Zeitschrift für Sozialforschung«. Aus der Gegenwart gesehen haben sie sich jedoch als haltbar erwiesen – besonders die, an denen er rückblickend am stärksten zweifelte. Die »Verschärfung der Krisen und die Verarmung der Arbeiter« seien Diagnosen gewesen, die sich »nicht als exakt erwiesen hätten«, schreibt er 1965 an Paul Tillich. Doch die Krisenverschärfung ist heutzutage, fast 60 Jahre nach Horkheimers Abgesang, wieder an der Tagesordnung. Hierzulande scheint es nur noch eine Frage der Zeit, bis die ›Brandmauer‹ fällt, die den politischen Konservatismus einstweilen noch von den Völkisch-Autoritären trennt.
Politisch wird Horkheimer in den 60er Jahren tief pessimistisch. Er sieht, dass freiheitliche Errungenschaften stets ihre Selbstbeschränkung im Gepäck haben. Emanzipation der Frauen bedeutet Integration in abhängige Arbeit bei schlechterer Bezahlung. Die europäische Einigung treibt die Verwaltung und die technokratische Unterwerfung von Mensch und Natur unter die Erfordernisse des industriell-militärischen Apparats voran. Die Demokratisierung des Bildungswesens domestiziert das Denken in Wirtschafts- und Herrschaftsinstitutionen. Die Überwindung der Religion triumphiert im Positivismus, der nicht mehr imstande ist, sich etwas Anderes als den bestehenden Zustand vorzustellen. Die Befreiung der Kolonien aus dem Würgegriff des europäischen Imperialismus endet in der Unterordnung der Menschen in den befreiten Ländern unter die Herrschaft neu formierter Machtblöcke und brutaler Warlords.
Der selbstzerstörerische Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft wird in Horkheimers publizierten Altersschriften mit leisen Tönen angedeutet. Seine späten Aphorismen dienen der internen Selbstverständigung, sie sind nicht zur Publikation vorgesehen. Hier (und in seinen Briefen) wird mit kräftigen Farben gearbeitet – manchmal mit grobem Strich, der die Dinge mitunter verzeichnet, besonders im politischen Bereich.
Der autoritäre Maoismus erscheint Horkheimer als akute Bedrohung; nicht nur der »Weg der Chinesen zum Rhein« zeichne sich ab, sondern die »Hölle einer chinesischen Weltherrschaft«. Horkheimers Weggefährte Herbert Marcuse, der nach dem Krieg in den USA blieb, wird Mitte der 60er Jahre zum Theoretiker der Protestbewegung. Wegen Horkheimers Konflikt mit den rebellierenden Studierenden kommt es zum Zerwürfnis. Marcuse merkt kopfschüttelnd an: »Von den ›Chinesen am Rhein‹ zu sprechen, solange die Amerikaner am Rhein stehen, ist mir einfach unmöglich.« Horkheimer weigert sich, gegen die US-Intervention in Vietnam Stellung zu beziehen. Marcuse, der hier den schärferen Blick hat, unterschätzt allerdings das vaterländisch-antiamerikanische Ressentiment in der Studierendenbewegung der BRD (»Ami, go home«), das Horkheimer wiederum früh erkennt. Ohne auf Dieter Kunzelmann einzugehen, und lange bevor Horst Mahler und Bernd Rabehl ihr coming out als Nazis haben, sieht er einen Zusammenhang zwischen antiamerikanischen und antisemitischen Elementen. Ein Blick in die Studien von Wolfgang Kraushaar, Dan Diner und Götz Aly aus den 2000er Jahren zeigt, dass er dafür gute Gründe hatte.
»Geschichte ist anders gelaufen, als Marx sich dachte«
Seine Bedenken gegen den eigenen Neomarxismus aus den 30er Jahren halten Horkheimer nicht davon ab, 1967 im Süddeutschen Rundfunk und 1968 in der »Süddeutschen Zeitung« unter dem Titel »Marx heute« für eine zeitgemäße Marx-Lektüre zu plädieren. Er unterscheidet zwischen Analyse, Diagnose und Prognose. Ohne vertiefte Kenntnis der Kritik der politischen Ökonomie sei die krisenhafte Gegenwart nicht zu begreifen. Marx’ Analyse des Gegensatzes zwischen den Eigentümerinnen und Eigentümern der Produktionsmittel und denen, »die einzig ihre Arbeitskraft verkaufen können«, habe das »Wesen bürgerlich-kapitalistischer Wirtschaft« auf den Begriff gebracht. Die Diagnose treffe zu: »Die sogenannte freie Wirtschaft führt aufgrund der eigenen Gesetzmäßigkeiten zu ihrem Untergang.« In Anknüpfung an Engels (implizit) und an Lenin (explizit) notiert Horkheimer: »Zentralisation« und »Zusammenballung des Kapitals« ließen Bürokratisierung und Administration ausufern. Weil Herrschaft und Unfreiheit mit einer Verbesserung der unmittelbaren Lebenslage von abhängig Arbeitenden in jenen Ländern einhergeht, die man heutzutage als den »globalen Norden« bezeichnet, sei die Prognose falsch gewesen; das Industrieproletariat wurde nicht zum revolutionären Subjekt. Doch die Verelendung in der »Dritten Welt« und die allgemeine gesellschaftliche Ungerechtigkeit belegten die Richtigkeit der Diagnose. »Marx hat gezeigt, dass Spannungen und Kriege, die äußeren politischen Probleme, von den … Krisen in den Industrieländern so wenig unabhängig sind wie die inneren ökonomischen Probleme vom Streit der Völker und Blöcke in der Welt.«
Daraus zieht Horkheimer zwei Schlüsse: In westlichen Schulen und Hochschulen soll das Marx-Studium auf die Tagesordnung gesetzt werden. Und ein weltweit tätiger, staatsunabhängiger Planungsstab müsste installiert werden, der die Menschheit beratend dabei unterstützt, das »Postulat der Klassenlosigkeit der Zukunft« in die solidarische Praxis zu überführen, die heute möglich wäre.
Lapidar hält Horkheimer fest: »Geschichte ist anders gelaufen, als Marx sich dachte.« Doch damit endlich »Geschichte im eigentlichen Sinn beginnen« könne, nämlich »im Zeichen menschlicher Selbstbestimmung«, bedürfe es »politischer Aktivität«, die den »Sozialismus im Sinne gemeinsamer Naturbeherrschung, Abschaffung der Unterschiede von Besitz und Notstand, Garantie der größten, nur durch die Erfordernisse friedlichen Zusammenlebens eingeschränkten individuellen Unabhängigkeit« verwirklicht.
Aus Horkheimers Sicht zeigte Chinas Aufstieg zur Weltmacht, dass die parlamentarische Demokratie für Staaten, die in der Weltmarktkonkurrenz ganz nach vorn wollen, keine optimale Herrschaftsform mehr ist. Dass das Nato- und EU-Lager nach Russlands Überfall auf die Ukraine einen Konfrontationskurs eingeschlagen hat, passt zu einem Statement aus dem Jahre 1970. »Stellen Sie sich zum Beispiel vor«, sagte Horkheimer, »dass in einem Land der Faschismus oder der terroristische Kommunismus ausbricht. Heutzutage ändert sich daraufhin in den Beziehungen der sogenannten zivilisierten Staaten zu diesen Ländern kaum etwas. Die denkenden Menschen sollten deshalb darauf drängen, dass die Länder ihr Verhältnis zu den terroristischen Staaten entscheidend ändern.« Horkheimer hätte das Putin-Regime wohl nicht als faschistisch bezeichnet, aber als regional-imperialistische Variante des autoritären Staats. Dass die EU ganz auf die US-Linie einschwenkt, hätte Horkheimer nicht abgelehnt. Fraglich, ob er den Anteil des westlichen Militärbündnisses an der Eskalation des Ukraine-Konflikts kritisch angesprochen hätte. Dass er den moralistischen Bellizismus in Deutschland gutgeheißen hätte, mit dem große Teile einer Generation, die sich einst als links verstand, gegen Verhandlungsperspektiven zum Waffenstillstand mobil machen, ist aber kaum anzunehmen.
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