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Mehr Anzeigen häuslicher Gewalt
Das BKA registrierte im vergangenen Jahr 240 547 Fälle. Bundesregierung startet Dunkelfeldstudie
Fast alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer von häuslicher Gewalt. Das ist das Fazit des Lagebilds häusliche Gewalt, das Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) am Dienstag zusammen mit Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamts (BKA), in Berlin vorstellten. Das Lagebild umfasst in diesem Jahr zum ersten Mal auch Gewalt im familiären Umfeld, davon sind etwa auch Kinder und pflegebedürftige Angehörige betroffen. Zuvor bezog sich der Bericht seit Beginn der Veröffentlichung 2015 ausschließlich auf Partnerschaftsgewalt. Die Zahlen beruhen auf der Kriminalstatistik.
Laut dem Bericht wurden vergangenes Jahr 240 547 Opfer häuslicher Gewalt registriert. Das ist ein Anstieg um 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 71,1 Prozent der Opfer waren weiblich. Darunter waren 65,6 Prozent von Partnerschaftsgewalt betroffen, 34,4 Prozent von innerfamiliärer Gewalt.
Bei der Partnerschaftsgewalt allein gab es 2022 dem Bericht zufolge einen Anstieg um 9,4 Prozent. Die Behörden registrierten hier 157 550 Fälle mit 157 818 Opfern, das entspricht rund 432 Fällen pro Tag. Im Jahr davor wurden 144 044 Fälle registriert. Rund 80 Prozent der Betroffenen waren weiblich, 20 Prozent männlich. Unter den Tatverdächtigen waren rund 78 Prozent Männer und 22 Prozent Frauen. In rund 40 Prozent der Fälle handelte es sich dabei um Ex-Partner*innen.
»Wir sehen einen deutlichen Anstieg der Zahlen für häusliche Gewalt. Hinter jedem dieser Fälle verbirgt sich das Leid und der Horror, ausgerechnet im engsten Umfeld angegriffen worden zu sein«, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faser (SPD). Gewalt fange »nicht erst mit Schlägen oder Misshandlungen an, es geht auch um Stalking und Psychoterror«, sagte Faeser. Bei den Taten handelte es sich in 59,3 Prozent der Fälle um vorsätzliche einfache Körperverletzung, bei 24,2 Prozent um Bedrohung, Stalking und Nötigung.
Den Anstieg der Zahlen erklärt BKA-Chef Münch mit einer gestiegenen Sensibilität in der Bevölkerung. Dies lasse sich etwa mit der Metoo-Bewegung, aber auch einer stärkeren Kampagne zu Beginn der Corona-Pandemie für Unterstützungsangebote wie das Hilfetelefon erklären. Dort sei die Zahl der Beratungssuchenden um 15 Prozent gestiegen. Mit dem Ende der Lockdowns habe sich das nicht zurückentwickelt, erklärt Petra Söchting, Leiterin des bundesweiten Hilfetelefons. Die Stelle bietet unter der Nummer 116 016 rund um die Uhr kostenlose und anonyme Beratung in 18 Sprachen an.
»Wir wissen, dass das Dunkelfeld bei häuslicher Gewalt erheblich ist«, so Holger Münch. Zwei Drittel der Betroffenen gingen nicht zur Polizei. Im Juli soll daher eine Dunkelfeldstudie zu Partnerschaftsgewalt mit dem Titel »Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag« starten, die über 12 Monate 22 000 zufällig ausgewählte Menschen jeden Geschlechts zwischen 16 und 85 Jahren befragt. Verantwortet wird sie vom Innen- und Familienministerium sowie dem BKA. Gegenstand der Untersuchung sollen auch Erfahrungen mit Justiz, Polizei, Medizin und Hilfestellen sein. Die Stichprobe sei bei »Menschen mit Migrationshintergrund« vergrößert, um sie vergleichbar mit denen der »Alteingesessenen zu machen, so Münch. Erste Ergebnisse sollen Anfang 2025 erscheinen. Münch erhofft sich davon Hinweise, «wie wir Repression und Prävention besser gestalten können». Die letzte Opferbefragung dieser Art wurde vor 20 Jahren durchgeführt.
Innenministerin Faeser will dazu ermutigen, häusliche Gewalt zur Anzeige zu bringen. Als eine Maßnahme zur besseren Prävention nannte sie die verstärkte Aus- und Fortbildung in der Polizei, um schnell und sensibel zu reagieren. Auch müssten Gewalttäter «nach dem ersten gewaltsamen Übergriff aus der Wohnung verwiesen werden».
Die Familienanwältin Asha Hedayati wirbt in diesem Zusammenhang für einen Perspektivwechsel: «Ich erlebe sehr häufig, dass die Betroffenen Täter-Opfer-Umkehr bei der Polizei erleben, bei den Einsätzen nicht ernstgenommen werden und die Taten bagatellisiert werden», sagt sie zu «nd». Statt mehr polizeilicher Maßnahmen, Videoüberwachung und härterer Strafen brauche es mehr Investitionen in Prävention und eine Veränderung der Strukturen, die diese Gewalt begünstigen, so Hedayati.
Familienministerin Lisa Paus (Grüne) betonte die Notwendigkeit eines flächendeckenden Unterstützungsangebots. «Ich setze mich dafür ein, die Lücken im Netz der Frauenhäuser und Beratungsstellen zu schließen», sagte sie. Dazu zähle die Bereitstellung der Finanzierung von Baumaßnahmen von Frauenhäusern und Beratungsstellen sowie die Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs, der einen Rechtsanspruch auf Schutz für Gewalt schaffen soll.
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