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Zentrale Frauenberatung: »Wir sind das letzte System, das greift«
Stefanie Uphoff und Johanna Kopietz über die Arbeit der Zentralen Frauenberatung in Stuttgart
Laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales waren im vergangenen Jahr rund 262 600 Menschen in Deutschland ohne Wohnung. 38 500 Personen lebten tatsächlich auf der Straße. Frauen machen davon ein Drittel aus. Sie scheinen aber weniger aufzufallen. Versuchen Frauen auf der Straße, unsichtbar zu sein?
Uphoff: Es gibt Frauen, die sieht man, weil sie dem »klassischen Bild« eines obdachlosen Menschen entsprechen. Aber viele wollen nicht auffallen. Tatsächlich sind gar nicht so viele Frauen auf der Straße. Man muss da unterscheiden zwischen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit. Wir sprechen bei uns vom Wohnungsnotfall. Da ist beides drin. Es gibt Frauen, die können irgendwo schlafen. Manchmal bieten ihnen das auch Männer an. Es sind in der Regel keine guten Umstände. Aber es gibt eine große Tendenz, das zu verstecken. Wohnungslos zu sein, ist sehr mit Scham behaftet, auch wenn man nicht auf der Straße übernachten muss.
Gibt es weitere Gründe dafür, dass Frauen versuchen, weniger aufzufallen?
Uphoff: Es hat bei Frauen viel mit eigenem Scheitern zu tun, vielleicht noch mehr als bei Männern. Das ist jetzt eine Hypothese, aber wenn man sich anschaut, wie Frauen aufwachsen und erzogen werden, dann sind es noch immer Werte wie Häuslichkeit, Familie und gepflegtes Äußeres, die ihnen vermittelt werden. Wird man wohnungslos, scheitert das alles. Man hat es selbst nicht geschafft.
Es überrascht, aber Stuttgart liegt nach Hamburg auf Platz zwei bei der Zahl der meisten Wohnungslosen in Deutschland. Woran liegt das?
Kopietz: Mit Sicherheit ist ein Aspekt der fehlende günstige Wohnraum. Zum anderen haben wir auch ein sehr ausdifferenziertes System der Wohnungslosenhilfe. Wir sind für Stuttgarterinnen zuständig, aber es kommen auch Menschen aus dem Umland her. In den kleineren Städten und Gemeinden gibt es oft gar nichts Frauenspezifisches oder nur vereinzelt Plätze, manchmal lediglich in den Einrichtungen für Männer.
Unter welchen Umständen kommen die Frauen in die Beratung?
Kopietz: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt immer wieder Kündigungen, entweder aus Eigenbedarf, aufgrund von Mietschulden oder Konflikten im Wohnumfeld. Tatsächlich wohnen viele Frauen ungesichert, das heißt mit dem Partner zusammen, auf den der Mietvertrag läuft. Kommt es zur Trennung, muss die Frau gehen.
Und wenn man dann keinen gut bezahlten Job hat, wird’s in Stuttgart schwierig.
Kopietz: Ja, zumal sowohl in Stuttgart als auch im Umland fast die gleiche Wohnungsnot herrscht. Es gibt Wohnungen, aber in einem Preissegment, das sich unsere Klientinnen oft nicht leisten können. Die meisten leben von Bürgergeld oder Grundsicherung beim Sozialamt. Da gibt es einfach Mietobergrenzen. Und für diese Grenzen gibt es kaum Wohnraum.
Uphoff: Es gibt auch nicht die wohnungslose Frau. Sie bringen alle so viele unterschiedliche Themen mit, Erkrankungen, auch psychische, Abhängigkeiten, Migrationshintergrund und dementsprechend manchmal fehlende Sprachkenntnisse. Wir haben über 50 Prozent Frauen mit Migrationshintergrund. Natürlich sind nicht alle von Sprachbarrieren betroffen, aber manche können kein einziges Wort Deutsch. Die Anträge auf Sozialleistungen gibt es nur auf Deutsch. Oft ist es zudem nicht mit einem Antrag allein getan. Manche haben keinen Ausweis mehr, Krankenkassenschulden, keinen Cent in der Tasche, um Bahn zu fahren. Das überfordert natürlich.
Wie sieht ein typischer Arbeitsalltag für Sie aus?
Kopietz: Unsere Hauptaufgabe ist es, die Frauen zu unterstützen. Die Existenzsicherung steht an erster Stelle. Wir helfen bei der Antragstellung, allerdings vom Schreibtisch aus. Was wir nicht leisten können, ist eine Begleitung. Was wir natürlich machen, sind Wegbeschreibungen ausdrucken, unter Umständen Anschreiben mitgeben, damit die Stellen wissen, was die Frauen genau brauchen.
Wie viele Klientinnen haben Sie pro Jahr im Schnitt?
Uphoff: Wir rechnen in Fällen, nicht in Personen. Es gibt Frauen, die kommen im Januar und sind dann im März wieder weg und kommen dann aber im Oktober wieder. 2022 hatten wir 471 Fälle. Davon waren 31 Männer, denn wir machen hier auch Paarberatung.
Verfügt Stuttgart über genug Plätze?
Uphoff: Aktuell reicht es. Wir hatten auch schon andere Zeiten. Die Zahlen sind über Corona eingebrochen. Woran das liegt, können wir uns nicht erklären. Wir hatten damit gerechnet, dass die Not ansteigt. Dem ist nicht so. Wir hatten vor Corona, etwa 2019, noch 670 Fälle. Damals reichten die Plätze nicht im Ansatz. Man wartete monatelang auf einen Platz in Einrichtungen. Aktuell hat es sich verbessert. Es ist nicht so, dass man schnell überall reinkommt. Aber die Perspektiven sind doch greifbarer, aber nicht überall.
Wie ist die Altersstruktur der Frauen? Die Wohnungslosigkeit betrifft auch recht viele ältere Frauen und Seniorinnen.
Uphoff: Die älteste Frau war 84 Jahre alt.
Kopietz: Wir haben vor ungefähr einem halben Jahr unsere Liste angeschaut und hatten damals circa zehn Frauen über 70. Das sind oftmals mehrfach belastete Frauen, in der Regel psychisch krank, oft auch schon körperlich krank, für die wir in unserem System der Wohnungsnotfallhilfe eigentlich kein wirklich passendes Angebot haben. Das betreute Wohnen bietet keine Unterstützung im pflegerischen Bereich und kann das auch gar nicht leisten. Die können solche Frauen nicht aufnehmen.
Sind diese Frauen schon Fälle für das Pflegeheim oder befinden sich die Betroffenen in einer Grauzone?
Kopietz: Ja, das tun sie. Oftmals sind es einfach auch Frauen mit vielschichtigen Problemen, die in diese hochschwelligen Angebote der Altenhilfe oder an jene für Menschen mit psychischen Erkrankungen gar nicht rankommen, weil sie die Kriterien dafür nicht erfüllen. Und so gibt es einige Frauen, die sehr lange in der Notübernachtung sind, auch in Umständen, die nicht passend sind, weder für die Frauen noch für die Mitarbeitenden, die sich dann mit pflegerischen Themen auseinandersetzen müssen.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Kopietz: Ich habe eine Klientin, die 70 Jahre alt ist. Sie hat vergangenen Sommer ihre Wohnung verloren aufgrund von Mietschulden. Die Frau hat über die letzten Jahre aber ein Vermögen angespart und ist somit aus dem Sozialhilfebezug rausgeflogen. Sie wollte aufgrund einer psychischen Erkrankung ihr Vermögen jedoch nicht einsetzen. Sie war der Meinung, die Miete müsse weiterhin das Sozialamt übernehmen. Das hat es aber nicht getan und so ist über ein Jahr lang die Miete nicht bezahlt worden. Am Tag der Räumung bot die Stadt ihr eine Fürsorgeunterkunft an. Die Frau hat diese aufgrund der psychischen Einschränkungen nicht annehmen können. Und so kam die Frau zu uns, doch auch hier war nicht viel möglich.
Fehlt es an Angeboten für solche Fälle in Stuttgart?
Uphoff: Im Bereich der Altenpflege fehlt es. Es wäre schön, für die paar speziellen Fälle etwas zu schaffen. So etwas kostet aber immer Geld. Gäbe es aber mehr Wohnungen, wäre es im Endeffekt günstiger. Die Unterbringung in den Wohnheimen ist immer wesentlich teurer.
Was motiviert Sie zu Ihrer Arbeit?
Kopietz: Die Vielfältigkeit. Bei jeder Erstberatung weiß ich nicht, wer kommt und mit was für einer Geschichte. Das ist eine große Herausforderung, aber auch ein großer positiver Aspekt der Arbeit. Auch dass man speziell Frauen unterstützen und ein Stück weit etwas bewirken kann. Vielleicht nicht das, was man sich selbst und was sich auch die Frau in erster Linie wünschen würde. Aber in der Regel wird die Situation besser für die Frau, wenn sie hier bei uns ist.
Uphoff: Wir sind das letzte System, das greift. Wenn bei uns nichts mehr geht, dann gibt es nichts mehr. Wir sind die wirkliche Existenzsicherung. Es kann belastend sein, das zu wissen. Aber es motiviert auch, dass wir die letzten sind, die sie noch haben, um vielleicht wieder eine andere Perspektive
zu ermöglichen.
Stefanie Uphoff ist Geschäftsführerin der Zentralen Frauenberatung Stuttgart. Johanna Kopietz ist Sozialarbeiterin bei der Frauenberatung. Zu ihnen kommen Frauen, die in existenzieller Not sind.
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