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Hochwasserschutz gegen Selbstverwaltung in Hamburg

In Hamburg-Wilhelmsburg wehren sich Bewohner gegen den Abriss ihres Hauses

  • Johannes Reinhardt
  • Lesedauer: 7 Min.
Das Hausprojekt in der Hamburger Fährstraße 115 soll dem Hochwasserschutz zum Opfer fallen. Die Stadt will das Haus abreißen.
Das Hausprojekt in der Hamburger Fährstraße 115 soll dem Hochwasserschutz zum Opfer fallen. Die Stadt will das Haus abreißen.

»Wir bleiben« steht in schwarzen Lettern an dem orangen Gründerzeithaus in der Fährstraße 115 im Hamburger Reiherstiegviertel im Nordwesten des Stadtteils Wilhelmsburg. Seit 2007 existiert hier das Wohnprojekt 115. Vor etwas mehr als drei Jahren wollten die 16 Bewohner*innen das Haus gemeinsam mit dem Mietshäuser Syndikat kaufen. Das Syndikat unterstützt Gruppen beim gemeinschaftlichen Erwerb von Häusern, die in Kollektiveigentum überführt werden, um bezahlbare Wohnungen und Raum für Initiativen zu schaffen. »Die Idee war, dass man das Haus langfristig als Projekt absichert«, sagt Steffen Reichel, der seit sechs Jahren in der 115 wohnt. Als der Kauf bereits in trockenen Tüchern schien, meldete sich jedoch die Freie und Hansestadt Hamburg und machte von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch. Die Stadt wollte das Haus entmieten und abreißen. Dies sei nötig für den Hochwasserschutz. »Das war ein Schock«, sagt Reichel, »wir konnten das alle gar nicht so richtig glauben, weil wir viel Zeit reingesteckt haben – und dann wird mit einem Mal alles so zunichte gemacht.«

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Das Eckhaus liegt in Wilhelmsburg, auf der gleichnamigen Elbinsel im Süden der Hansestadt. Bei der großen Sturmflut 1962, bei der insgesamt 340 Menschen ums Leben kamen, starben allein hier 222 Menschen, weil der Hochwasserschutz unzureichend war und Deiche brachen. Nun will sich Hamburg auf die Klimakatastrophe vorbereiten und erhöht sukzessive die Hochwasserschutzanlagen, so auch einen Deich am Ende der Fährstraße. Dieser soll um 80 Zentimeter wachsen und zu einem sogenannten Erddeich ausgebaut werden, wodurch er wesentlich breiter werden müsste. Dieser Ausbau erzwingt nach Angaben der Stadt einen Abriss des Hauses Fährstraße 115, da das Haus dem neuen Deich im Weg stehen würde.

Niemand im Haus bezweifelt, dass Hochwasserschutz wichtig ist, aber sehr wohl, dass dafür das Wohnprojekt weichen muss. Die Stadt habe alternative Hochwasserschutzkonzepte, die den Erhalt der 115 ermöglichen, »nicht einmal ernsthaft geprüft«, heißt es in einem Statement der Bewohner*innen. Deshalb klagten sie gegen das städtische Vorkaufsrecht. Am 19. Juli findet nun eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Hamburg statt, bei der entschieden werden soll, wer das Haus am Ende kaufen darf.

Die 115 ist in ihrem Verständnis mehr als ein Wohnprojekt, sie gehört zur Kultur des Reiherstiegviertels. »Von Anfang an war für uns immer ganz wichtig, dass es nicht nur ein reines Wohnhaus ist«, sagt Bewohner Jano Kawlath, »sondern wir auch offen sind für andere Gruppen und das Haus und die Ressourcen teilen.« Im Keller und im Garten finden regelmäßig Konzerte statt, vor allem mit Punk- und Hardcore-Bands, deren Plakate den Hausflur zieren. Daneben gibt es Workshops und Partys. »Wir haben Sporträume und einen Gemeinschaftsraum, den auch Gruppen von außerhalb nutzen, zum Beispiel Lesekreise«, sagt Kawlath. »Wir sind ein Teil eines größeren Netzwerks.«

Um ihr Haus und die Projekte langfristig zu erhalten, entschieden sich die Bewohner*innen bereits 2016 zum Kauf und wandten sich an das Mietshäuser Syndikat. Dort verwalten sich aktuell bundesweit bereits über 180 Hausprojekte selbst. Um Mitglied zu werden, bedarf es jedoch einiger Vorarbeit. »Für das Mietshäuser Syndikat muss man einen Finanzplan aufstellen und man muss eine GmbH gründen«, berichtet Reichel. Insgesamt haben die Bewohner*innen mehrere Tausend ehrenamtliche Arbeitsstunden in die Vorbereitung des Hauskaufs gesteckt: »Der Finanzplan, Direktkredite einwerben, Bankverhandlungen führen und sich mit einer GmbH-Gründung auseinandersetzen – all das brauchte sehr viel Zeit«, so Reichel weiter.

Doch dann meldete die Stadt Hamburg ihr Vorkaufsrecht an. Viele Bewohner*innen seien zunächst niedergeschlagen gewesen, doch die Arbeit ging weiter: Nun stand Öffentlichkeitsarbeit im Zentrum. Am 9. Juli, einem brütend heißen Tag, veranstaltete die 115 in ihrem Garten ein Info-Café, um über den derzeitigen Stand und den anstehenden Prozess zu berichten. An der Toreinfahrt des Hauses kleben bunte Sprechblasen mit Botschaften, die das Projekt von Unterstützer*innen erhalten hat. »Diese Straße braucht dieses Haus«, steht auf einer Sprechblase und auf einer anderen ist zu lesen: »Weil Deichschutz auch ohne Vernichtung von sozialem Wohnraum gehen muss.« Darüber hinaus, berichtet Reichel weiter, »gab sehr viele Leute, die Solidaritätstsransparente aufgehängt haben – vor allem hier im Viertel, aber auch darüber hinaus. Das hat uns ermutigt weiterzumachen.«

Etwa 30 Menschen haben sich zur Veranstaltung im Garten der 115 eingefunden. Die Luft ist drückend, Bäume und eine gespannte Plane spenden ein wenig Schatten, es gibt vegane Waffeln und Eiskaffee. Joachim Van Edom, der auch im Haus wohnt, klärt die Gäste über den aktuellen Stand auf: »Wir haben einen Kaufvertrag unterschrieben, wir waren beim Notariat, haben vorher eine GmbH gegründet, haben Grunderwerbsteuer überwiesen.« 30 000 Euro seien das gewesen, ergänzt Ronia Lührs. »Wir haben auch knapp 15 000 Euro Bereitstellungszinsen für den Bankkredit bezahlt, und bei allem, was sich da so summiert, sind wir bei über 70 000 Euro gelandet.« Daraufhin habe auch das Finanzamt der 115 mitgeteilt, dass sie den Kaufpreis überweisen könnten.

Doch dann kam ein Brief der Stadt Hamburg, die ihr Vorkaufsrecht ausüben wollte. »Das Notariat war damit überfordert«, so Van Edom weiter. »Dass die Stadt ihr Vorkaufsrecht für ein ganzes Haus ausübt, kannte das Notariat nicht.« Bislang sei es immer nur um kleine Grundstücke oder Gärten für Fahrradwege oder Straßen gegangen. Die Stadt beruft sich auf den Paragraphen 55b des Hamburgischen Wassergesetzes. Demnach bestehe ein Vorkaufsrecht für »Flächen, die an eine öffentliche Hochwasserschutzanlage angrenzen und für Zwecke des Hochwasserschutzes gegenwärtig oder zukünftig benötigt werden.« Durch den neuen, breiteren Deich müsste die anliegende Straße verlegt werden und ginge dann »einmal quer durch unser Haus«, erläutert Van Edom weiter, der von Beruf Bauingenieur ist. Dies sei nach Aussage der Stadt die einzige Lösung.

Dabei gebe es andere Möglichkeiten. Beispielsweise könnte die derzeitige Deichkonstruktion erhöht werden, ohne sie zu verbreitern. Eine andere Option seien sogenannte Spundwände, also Stahlkonstruktionen, die meist zur Sicherung von Baugruben oder Geländesprüngen verwendet werden. »Man sieht die Spundwände hier überall, wenn man durch den Hafen fährt. Sie sind wasserdicht und es gibt keine Überschwemmungen.« Notgedrungen seien die Bewohner*innen in den vergangenen Jahren zu Hochwasserschutzexpert*innen geworden. »Manchmal tut die Stadt so«, sagt Van Edom, »als ob wir keinen Hochwasserschutz haben möchten und 50 000 Menschenleben hier auf der Insel für unser Eigeninteresse in Gefahr bringen wollen.« Jedoch wollen auch die Bewohner*innen der 115 einen funktionierenden Hochwasserschutz. »Wir wollen hier auch sicher leben, vor allem, wenn wir das Haus kaufen und vielleicht noch viele Jahre hier wohnen wollen, ist das auch in unserem Interesse.«

Aus Sicht der Bewohner*innen wurde die Öffentlichkeit von der Stadt in den vergangenen Jahren »in die Irre geleitet«, ergänzt Bewohnerin Norika Rehfeld, »denn es gibt verschiedenste Arten und Weisen, Deiche zu bauen«. Es sei »eine politische Entscheidung, wo wieviel Geld in die Hand genommen wird, um die Hochwasserschutzanlage zu planen«. So finde man »rund um die Innenstadt keinen Erddeich, sondern eben Spundwände, oder rund um die Elbphilharmonie den Gala-Deich: eine Hochwasserschutzanlage mit Parkhaus und Café«. Daher fordern die Bewohner*innen: »Hochwasserschutz muss langfristig gedacht werden, und zwar so, dass er sozialverträglich ist und nicht wie in der Hafencity sich nur die Reichsten den guten Flutschutz leisten können.«

Auch finanziell war das Handeln der Stadt für die 115 katastrophal. Die Stadt habe mitgeteilt, dass das Haus von den bereits bezahlten 70 000 Euro mindestens 20 000 Euro nicht wiederbekommen würde. Dies sei unternehmerisches Risiko. Und auch wenn die Bewohner*innen der 115 am 19. Juli ihren Prozess gewinnen, ist der Hauskauf noch nicht sicher. »Die Konditionen haben sich grundlegend verändert«, erklärt Bewohnerin Ronia Lührs. Durch die gestiegenen Zinsen sei es nicht mehr so leicht möglich, einen Kredit zu bekommen.

Das Handeln der Stadt und die mehrjährige Wartezeit hat der 115 einen unwiederbringlichen Schaden zugefügt. Beeindruckend ist, dass die Bewohner*innen darüber ihren Humor nicht verloren haben: »Fürchtet nicht die Sturmflut, sondern unseren Zorn«, heißt es auf einem Sticker, der auf ihre Website verweist.

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