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Odessa am Schwarzen Meer - eine Stadt am Rand des Krieges
In der Hafenstadt am Schwarzen Meer werden die Menschen durch russische Raketen und die eigene Armee bedroht.
Wer über den Priwos-Markt, den größten Lebensmittelmarkt von Odessa, gehen will, sollte dies mit leerem Magen tun. An fast jedem Marktstand kann man ein Stückchen probieren, Fleisch, Käse, Fisch, ein Gläschen Granatapfelsaft, Mandarinen, Pistazien und andere Nüsse. Natürlich machen das die Verkäufer*innen nicht selbstlos. Die Taktik ist überall dieselbe: Zuerst kann man ein Stück probieren, dann wird man in ein freundliches Gespräch verwickelt und am Ende hat man eine kleine Tragetasche in der Hand, obwohl man den festen Vorsatz hatte, doch nichts zu kaufen.
Hier an diesem Ort, nur wenige hundert Meter vom Hauptbahnhof der quirligen Millionenstadt am Schwarzen Meer entfernt, spürt man bei diesem emsigen Treiben und dem Marktgeschrei nichts vom Krieg. Gleichwohl ist erkennbar, dass in diesem Jahr deutlich weniger Marktstände als in den vergangenen Jahren besetzt sind. Das sonst übliche Gedränge fehlt. »Ich gehe heute früher nach Hause«, sagt eine Friseurin, die auf dem Gelände des Marktes ihren Salon hat, an einer nahegelegenen Bushaltestelle. »Meine Chefin kommt am Nachmittag ohne mich aus«, sagt sie deprimiert. Seit Kriegsbeginn sei die Zahl der Kund*innen einfach überschaubarer geworden. »Vor allem Kinder kommen nicht mehr«, klagt sie.
Deutlich belebter ist die Szenekneipe im Zentrum von Odessa. Hier schallt schon am Nachmittag ohrenbetäubende Rockmusik bis auf die Straße. Wer sich im »Portal 404« versammelt, will nicht reden, schon gar nicht über Politik und den Krieg, sondern abschalten. Die Frauen tragen schwarz, Ketten und Ohrringe. Einige Männer über 50 mit langem Haar geben sich als »immer noch Hippies«. Viele haben eine Gitarre neben sich stehen. Denn wer eben mal auftreten, ein Lied singen will, erhält dazu die Gelegenheit.
Ein paar Meter weiter in der Fußgängerzone ist die Musik, die von den Straßencafés kommt, eher gedämpft. Auf den Tischen steht eine Rotweinflasche, die Frauen sind schick und sommerlich gekleidet, die Männer sportlich. Ältere Menschen sucht man hier vergeblich. Rentner*Innen können sich dieses Vergnügen nicht leisten. Die Innenstadt gleicht einer Insel mit Wohlstand, Rotwein und gut aussehenden Menschen.
Der Strand als Treffpunkt
Wer morgens nicht einkaufen geht, geht zum Strand. Der ist kostenlos, hier kann man sich mit Freunden und Bekannten treffen. Von der Haltestelle Tschkalow-Sanatorium geht es durch den gleichnamigen Park und nach zwei Minuten sieht man das Meer, soweit das Auge reicht. Jetzt gilt es nur noch, den teilweise steilen Abstieg auf einem engen Pfad hinunter zum Strand zu schaffen, vorbei an einem Kiosk mit Bier und Fast Food und einer zehn Meter hohen Kletterwand. Das Wasser ist warm und ziemlich klar. Zu verlockend. Trotz aller Warnungen, nicht ins Wasser zu gehen, hält es die Odessiten, wie die Einwohner der Stadt genannt werden, nicht am Ufer. Beinahe jeder, der hier Entspannung sucht, geht ab und an ins Wasser. Die Warnungen vor dem Meer sind berechtigt. Minen könnten angeschwemmt werden oder einfach auch Müll, der mit Krankheitserregern aus dem leergelaufenen Kachowka-Stausee vermischt ist. Immer wieder treffen SMS-Nachrichten der Behörden mit derartigen Hinweisen auf dem Smartphone ein. Doch die Menschen stört das kaum. Hier am Strand können sie sich abkühlen und vom Trubel der Stadt erholen.
»Perle am Meer« wird Odessa genannt. Seit Jahresbeginn ist die Stadt Weltkulturerbe der Unesco. Doch kaum hat man die Innenstadt verlassen, nimmt die Armut Straße um Straße zu. Man sieht dann Menschen wie diese junge, schick gekleidete Frau im Minirock, die die Fußgängerzone verlässt, die Straßenseite wechselt und gezielt auf einen Müllcontainer zuläuft – und anfängt, in diesem zu wühlen. Diese Szene zeigt, wie sehr der Schein trügt, der in der Innenstadt von Odessa.
Versteckt vor der Wehrbehörde
Aljona kommt gerade vom Bahnhof, wo sie einen ausländischen Gast abgeholt hat. Ihren Mann wollte sie zu diesem Treffen auf keinen Fall mitnehmen. »Auf dem Weg zum Bahnhof gehe ich durch Gebiete, in denen sie besonders häufig warten, die Männer von der Wehrbehörde«, berichtet sie ihrem Gast aufgeregt. Kürzlich habe sie vier Mitglieder einer Kiewer Rockband vom Bahnhof abgeholt. »Die haben vielleicht zehn Schritte außerhalb des Bahnhofs gemacht, da wurden sie schon abgefangen.« Es waren Männer der Wehrbehörde, die die vier auf dem Trottoir anhielten, ihre Papiere kontrollierten und mitnahmen. Wenige Stunden später seien die vier schon in der Kaserne gewesen, erzählt Aljona. Der Vorfall zeige auch, dass die Sitten hier in Odessa härter als in der Hauptstadt Kiew sind. Jetzt, wo sich kaum noch jemand freiwillig für den Krieg melde, würde man junge Männer mit Gewalt direkt von der Straße zur Armee holen und nach einer mehrtägigen Ausbildung direkt an die Front schicken. In der Stadt Dnipro, so weiß Aljona zu berichten, sei gar auf einen jungen Mann, der vor den Männern der Wehrbehörde weggelaufen war, geschossen worden, wenngleich auch »nur« in die Luft.
Beim Krieg von Russland gegen die Ukraine hat man Bilder von Drohnen, Raketen und der Front im Kopf. In Odessa war es lange Zeit ruhig, nur selten griffen russische Raketen oder Drohnen die Stadt an. Ein Grund dafür war sicher auch das Getreideabkommen, mit dem die Ukraine das vergangene Jahr Landwirtschaftsprodukte über das Schwarze Meer ausführen konnte. Odessa war einer der Häfen, von denen das Getreide in die Welt ging. Russland garantierte die Sicherheit der Transporte. Bis Moskau das Abkommen am 17. Juli nicht mehr verlängerte. Kurz darauf griffen Drohnen und Marschflugkörper den Hafen an. Ein Mann wurde dabei verletzt. Der Krieg könnte durch das Aussetzen des Abkommens wieder präsenter werden in Odessa, wo man bisher hauptsächlich die wirtschaftlichen Folgen zu spüren bekam. »Ich sehe jeden Tag einen Mann im Hof, der seine beiden Beine im Krieg verloren hat«, berichtet Oleg. »Um ihn kümmert sich außer seiner Frau niemand. Kein Staat, keine Kirche, keine Organisation. Ich weiß gar nicht, wie dieser Mann wirtschaftlich überleben kann.« Beim Gang durch die Schlafstadt, in der Oleg wohnt, sieht man fast nur Frauen. Viele Männer würden sich schon seit Monaten in ihren Wohnungen verstecken, aus Angst, auf der Straße von der Wehrbehörde aufgegriffen und in den Krieg geschickt zu werden, berichtet er. Er selbst habe ein Papier, dass er aus der Armee entlassen worden sei, bei sich. Deswegen habe er von der Wehrbehörde nichts zu befürchten.
Oleg weiß, was Krieg ist. Er hat fast ein Jahr an der Front gekämpft. Doch jetzt ist er froh, dass er da raus ist. Gleichwohl: Arbeit findet er keine. Die Firmen wollten keine Männer anstellen, weil die ja jederzeit von der Straße weg in den Krieg eingezogen werden können, berichtet er. Außerdem seien die wichtigsten Arbeitgeber pleite oder zumindest nicht in der Lage, Leute einzustellen. Dolmetscherinnen, Reiseführer, Hotelfachleute, Seeleute, sie alle seien arbeitslos. Und die Arbeitslosenhilfe sei so gering, dass sich der Weg zur zuständigen Behörde nicht lohne, so Oleg. Wer es trotzdem tue, müsse damit rechnen, direkt am Gebäude von der Wehrbehörde abgefangen und zum Militär eingezogen zu werden. »Das einzige, was ich machen könnte, um Geld zu verdienen«, sagt Oleg, »ist die Armee. Wenn ich mich wieder zum Militärdienst melden würde, würde ich so viel verdienen wie ein deutscher Facharbeiter.«
Wer kann, verdrängt die Gefahr
Der 40-jährige Mykola sitzt am Küchenfenster, vor ihm ein Bier. Eigentlich ist der Tag nicht schlecht gelaufen. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Den ganzen Tag war er angeheuert worden als Umzugshilfe. Er ist stark, trinkt pro Tag maximal eine Flasche Bier und kann vor allem eines: Die Gefahren verdrängen. Gelangweilt blickt er auf sein Handy: »Gehen Sie in den nächsten Schutzraum, bleiben Sie dort bis zur Entwarnung, schalten Sie das Licht aus«, heißt es da. Ihn kümmert das nicht. Er ist bisher noch nicht von einer Rakete oder einer Drohne getroffen worden. Und auch der Hinweis, das Licht auszuschalten, sei Unsinn, findet er. Zum einen sei es noch gar nicht so dunkel auf der Straße, zum anderen würden die Russen doch nach vorher festgelegten Zielen schießen und nicht dahin, wo gerade Licht brennt, meint er und trinkt sein Bier zu Ende. Wirklich schlimm seien nur die dran, die zur Front müssten, oder die jemanden an der Front verloren haben. »Gehen Sie mal zur psychiatrischen Tagesklinik an der Kanatna-Straße«, sagt Mykola, »da sind immer verzweifelte Witwen von Soldaten, die nicht mehr weiterwissen.« Bisher hat er Glück gehabt, ist von den Männern der Wehrbehörde nicht erwischt worden. Inzwischen hat sich herumgesprochen, wo die lauern, und so meidet er die gefährlichen Orte.
Kunst ohne Aufträge
Im Zentrum von Odessa steht Olga Jarowaja, eine Künstlerin, die Collagen von Tieren macht, in ihrem Atelier. Es ist ein Souterrain-Raum mit Fenstern. Bekommen hat sie das Atelier von der örtlichen Künstlervereinigung. Der Vorteil dieses Raumes: Er bietet eher Schutz vor Angriffen aus der Luft. Früher, das heißt, vor der Pandemie, war Olga Jarowaja eine bekannte und erfolgreiche Künstlerin in Odessa. Regelmäßig konnte sie auf Ausstellungen Bilder verkaufen, zahlreiche Cafés und Restaurants beauftragten sie, ihre Wände zu bemalen.
Bekannt ist sie in der Stadt immer noch. Doch spätestens seit dem 24. Februar 2022 ist es vorbei mit den Aufträgen und Ausstellungen. Gleichwohl: Jarowa ist immer fröhlich, in sich ruhend. Und überhaupt: Auch jetzt gibt es Aufträge, nur eben weniger als vor dem Krieg. Jarowa lebt auf dem Land, einige Kilometer von Odessa entfernt. Und dort sind jeden Tag Katzen zu Besuch, die sie füttert. Es sei ein gegenseitiger Austausch, sagt sie liebevoll über die Tiere. Außerdem gibt es auf dem Land weniger kriegerischen Beschuss aus der Luft.
Das Einzigartige an ihrem künstlerischem Schaffen ist: Sie hat eine Technik für ihre Collagen entwickelt, die praktisch nichts kosten. Ihre Hauptquelle ist Altpapier. Farbige Broschüren verarbeitet sie zu Schnipseln, die sie sorgfältig nach einem nur ihr verständlichen Prinzip sortiert. Hinzu kommen Schnipsel aus alten sowjetischen Zeitungen, Noten und Fahrkarten. Mit diesem Material klebt sie ihre Werke zusammen. Am liebsten produziert sie Collagen von Katzen. Aber auch Hunde, Hähne, Tiger, Esel erstellt sie gerne mit ihren Collagen.
Eigentlich war es eher Zufall, dass sie mit dieser Technik begonnen hat. Irgendwann musste sie ein Bild, das gerissen war, wieder zusammenkleben. Und als sie dieses Bild mit Altpapier zusammenklebte, schien ihr, als habe das Bild an Qualität gewonnen. Und so entstand die Idee, Collagen aus Schnipseln gedruckten Materials anzufertigen.
Odessas Identität
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Stimmung in Odessa, der ukrainischen Stadt, in der vorwiegend Russisch gesprochen wird, verändert. Zierten noch vor zwei Jahren vor allem die rot-gelben Fahnen der Stadt Odessa Busse, Balkone und öffentliche Gebäude, überwiegen jetzt die blau-gelben ukrainischen Fahnen. »Am 24. Februar habe ich ein Bild von Putin, das an meinem Kühlschrank mit einem Magneten befestigt war, zerschnitten«, berichtet eine Journalistin. Russland ist hier inzwischen fast so verhasst wie in anderen ukrainischen Städten auch. Gleichwohl, es gibt sie: Bewohner meist fortgeschrittenen Alters, die noch an Russland hängen. Einer davon ist der Taxifahrer Roman. Für ihn steht fest, dass die Ukraine den Krieg angefangen habe. »2014 haben die hier Dutzende von Leuten, die für Russland waren, direkt am Bahnhof im Gewerkschaftshaus mit einem großen Feuer ermordet«, erinnert er. Dann folgten die Angriffe auf »Russen im Donbass«. Selbst wenn Russland den Krieg verliere, werde es später, vielleicht in zwei Jahren, wieder erstarken und erneut Richtung Kiew marschieren, ist er sich sicher. Auch nach dem Ersten Weltkrieg, den Russland ja verloren hat, sei Russland erstarkt, zur Sowjetunion mutiert und größer geworden. »Übrigens«, meint er, »Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg verloren. Ja und? Heute ist es das stärkste Land von Europa.«
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