Bruno Flierl war gegen Rückbauten in die Vergangenheit

Bruno Flierl wollte sozialistische Architektur als moderne Architektur und bekam dafür Ärger

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.
In Berlin-Mitte: Bruno Flierl (1927-2023)
In Berlin-Mitte: Bruno Flierl (1927-2023)

In der Nacht vom 16. zum 17. Juli starb in Berlin im Alter von 96 Jahren Bruno Flierl, der wohl profilierteste Theoretiker zum Verhältnis von Architektur und Gesellschaft der DDR und zugleich Kritiker.

Geboren 1927 im niederschlesischen Bunzlau als Sohn eines Bauingenieurs, lernte Flierl Maurer, nahm als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil, kam in französische Kriegsgefangenschaft und machte dann an der Abendschule das Abitur. Er studierte erst an der Hochschule der Künste in Berlin-Charlottenburg, anschließend an der Hochschule für Bauwesen in Weimar. Nach dem Werkarchitektenexamen setzte er sein Architekturstudium nicht fort, weil er sich aus gesellschaftspolitischen Gründen entschlossen hatte, eine wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Theorie und Geschichte der Architektur an der gerade erst gegründeten Deutschen Bauakademie in Ostberlin aufzunehmen.

»Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre lernte ich den geistigen Aufbruch in eine alternative gesellschaftliche Zukunft kennen, der zu dieser Zeit wesentlich von den nach langer Emigration heimgekehrten antifaschistischen deutschen Künstlern und Intellektuellen bestimmt wurde«, schrieb er 2007 in »Kritisch denken für Architektur und Gesellschaft«, seiner Arbeitsbiografie. »In ebendiesem geistigen Kontext entstanden für mich sozialistische Ideale und die – ganz wesentlich von Bertolt Brecht her begeistert aufgenommene – Überzeugung von der Veränderbarkeit der Welt, wenn wir sie nur wirklich verändern wollen und die Erhaltung des Friedens als notwendige Voraussetzung dafür begreifen. Sozialismus und Frieden, das schien mir die Antwort auf die Frage nach meiner gesellschaftlichen Zukunft zu sein, nicht Antikommunismus und Krieg, denen ich in West-Berlin als tradierte deutsche Grundhaltungen zur Lösung politischer Probleme – trotz Faschismus und Krieg – noch immer und durchaus nicht vereinzelt begegnete.«

Der aktuelle Grund, warum Flierl 1952 in Ostberlin nicht in die Architekturpraxis, sondern in die -wissenschaft ging, war seine Abneigung gegenüber der »Architektur der nationalen Traditionen«, wie sie in den Diskussionen über Architektur dirigistisch »empfohlen«, für den Bau der Stalinallee popularisiert und schließlich auch realisiert wurde.

Flierl strebte sozialistische Architektur als moderne Architektur an. Damit waren bereits erste Widersprüche zur Ideologie der sich schrittweise etablierenden Gesellschaft des realen Sozialismus in der DDR vorprogrammiert.

1959 bis 1961 arbeitete er an den Planungen für das Zentrum der DDR-Hauptstadt mit, sein wissenschaftliches Interesse fand so auch einen konkreten Gegenstand. Im Herbst 1961 übernahm Flierl die Leitung der Zeitschrift »Deutsche Architektur« – in der Hoffnung, tatsächlich gebraucht zu werden und seine bei der Planung des Stadtzentrums von Berlin gewonnenen positiven Erfahrungen und Kontakte in Theorie und Praxis von Städtebau und Architektur nun auf publizistische Weise republikweit ausdehnen zu können. Seine Herausgeberschaft, die sich unter anderem in Texten über das Bauhaus ausdrückte, gefiel weder den Funktionären des Bauwesens noch Walter Ulbricht.

Politisch am brisantesten waren die von Flierl inszenierten und veröffentlichten Architektengespräche, schon weil er dies ohne Erlaubnis »von oben« tat. An der zuvor nicht abgestimmten Veröffentlichung unkontrollierter Ansichten von Architekten wie vor allem auch von ihm selbst entzündete sich 1963 eine groß angelegte Kritik an der Zeitschrift. Nach zweieinhalb Jahren wurde Flierl seines Postens enthoben. Fortan hießen seine beruflichen Stationen Stadtbauamt, wieder Bauakademie und Humboldt-Universität.

Flierl war beteiligt an Untersuchungen zur räumlichen Komposition des Stadtzentrums entlang der sogenannten Zentralen Achse vom Brandenburger Tor bis zum Alexanderplatz, insbesondere in Hinsicht auf den geplanten Fernsehturm und das neu zu errichtende Gebäude des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten am Marx-Engels-Platz. Mit seiner Habilitationsschrift versuchte er die sozial-räumlichen Zusammenhänge von Gesellschaft und Umwelt theoretisch zu klären und am praktischen Beispiel der DDR-Architektur und -Stadtentwicklung zu analysieren.

1982 wurde Flierls Text zur architekturbezogenen Kunst aus dem schon gedruckten Katalog der IX. Kunstausstellung der DDR entfernt. Er musste sich der Kritik in Gestalt der geballten staatssozialistischen Macht der DDR im Architektenverband stellen. Kritisiert wurden vor allem seine Geringschätzung und die daraus folgende Abwertung des gesellschaftlichen Auftraggebers, dessen Fähigkeiten zur Leitung von Prozessen komplexer Umgestaltung Flierl bezweifeln würde. Der Gemaßregelte wurde als »konterrevolutionär, staatsfeindlich und parteischädigend« bezeichnet und aus allen beruflichen Funktionen entfernt. Nachdem er sich von einem Schlaganfall erholt hatte, war er freiberuflich auf dem Gebiet der Architektur- und Stadtkritik tätig.

Zum Untergang der DDR notierte Flierl: »Die utopische Verheißung der DDR als Land des realen Sozialismus war verschlissen, die nun kommende neue – die alte – Gesellschaft des Kapitalismus, die ich einst verlassen und die mich nun wieder zurückgeholt hatte, war nicht meine Gesellschaft – damals nicht und heute nicht.« Nach dem Anschluss der DDR an die BRD hielt Flierl an seinem obersten Ziel fest, »das Leben der Menschen zu verbessern«. In den 90er Jahren saß er im Stadtforum des Senators für Stadtentwicklung Volker Hassemer (CDU) und nahm auch an den Kolloquien zum Holocaust-Mahnmal teil. Er mischte sich der Zukunft wegen ein, wenn es um den Palast der Republik und das Stadtschloss ging, denn er wollte nicht hinnehmen, wie das neue Berlin gegen die sozialistische Moderne vorging. Flierl war der Einzige der Expertenkommission Historische Mitte Berlin, der gegen die »historische Rekonstruktion« des Berliner Stadtschlosses stimmte.

Ihm wurde dabei die Rolle des »Quoten-Ossis« zuteil: »Ich wurde gehört, aber es wurde nichts diskutiert. (…) Man fühlte sich wieder in der verloren gegangenen Vergangenheit recht wohl, ohne danach zu fragen, was das Bauwerk früher für eine praktische politische Funktion als Herrschaftsgebäude hatte und welche kulturelle Ausstrahlung es im Kontext von Berlin-Vergangenheit und Berlin-Bild hatte.«

In seinem Text »Zur Neuaneignung verlorener Orte der Stadt durch gebaute Symbole« schrieb Flierl 2004: »Die Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel in Berlin ist vor allem deshalb schwieriger als die des Ortes Ground Zero in New York, weil es sich hier um die Neuaneignung eines durch zweimaligen Gesellschaftswechsel verloren gegangenen Ortes handelt. Das hätte eine tiefergreifende kritische Auseinandersetzung mit zurückliegender deutscher Geschichte verlangt, als das in New York überhaupt notwendig war. Das aber ist nicht geschehen.«

Ihm war klar, dass »der Palast der Republik als Symbolbau der DDR nicht auch zum Symbolbau im vereinten Deutschland werden kann«. Gleichzeitig betonte er, wie falsch es sei, anzunehmen, »dass ein durch Rückbau in die Vergangenheit vor der DDR wiedergewonnenes Berliner Schloss ein akzeptables Symbol aller Deutschen in der heutigen Bundesrepublik sein kann«. Denn es ist »nur das Symbol einer auf die Vergangenheit gegründeten, nicht aber auf die Zukunft orientierten deutschen Vereinigung«.

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