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- Betriebsbesetzung in Italien
Malocher for Future
Seit zwei Jahren halten Arbeiterinnen und Arbeiter nahe Florenz eine permanente Betriebsversammlung in ihrer Fabrik ab. Mit dieser legalen Form der Besetzung kämpfen sie gegen die Schließung des Werks
Fragt man Dario Salvetti, wie es sich anfühlt, heute die Betriebshalle der GKN Driveline in Campi Bisenzio zu betreten, bezieht er sich aufs Kino: »Es erinnert mich an einen Horrorfilm, in dem plötzlich Menschen verschwinden.« Bis auf das Quietschen des Gummibodens unter seinen Füßen höre er nichts mehr, wenn er nun in den blauen Gängen entlanglaufe. Die modernen Roboter, die einst das Werk auszeichneten, stünden still, wie eingefroren. »Gespenstisch, einfach gespenstisch«, sagt der 45-Jährige.
Der italienische Standort des britischen Autozulieferers GKN befindet sich in einem jener Vororte, wo gerne Fabriken versteckt werden. Rund fünfzehn Kilometer vom Zentrum von Florenz entfernt liegt das Werk wie eingeklemmt zwischen Autobahn, einem Multiplexkino und einem riesigen Einkaufszentrum. Produziert wurden hier hauptsächlich Achswellen für Autos, unter anderem Fiat, Maserati und Ferrari. »Ich war in der Montage – der verdammten Infanterie«, kommentiert Salvetti. Acht Jahre war er hier angestellt – bis zum 9. Juli 2021. Als er an jenem frühen Freitagmorgen seine Schicht beendete, ahnte er nicht, dass das Unternehmen um 10.30 Uhr die gesamte Belegschaft, allesamt rund 500 Menschen, per E-Mail fristlos kündigen würde.
Seitdem sind Salvetti und seine Kolleg*innen nicht mehr an ihren gewöhnlichen Arbeitsplätzen anzutreffen. Statt in der Betriebshalle halten sie sich nun in den ehemaligen Büros auf. Die Türen haben sie mit neuen Aufschriften versehen, etwa »Reindustrialisierungsraum« oder »kulturelle Konvergenz«. Was hier abgehalten wird, heißt permanente Betriebsversammlung – eine legale Form der Werksbesetzung gemäß des Statuts der Arbeiter, welche 1970 im Zuge der Arbeits- und Gewerkschaftskämpfe der späten 60er Jahre in Italien verabschiedet wurde. Wenn man bedenkt, dass GKN einst im Besitz von Fiat war, macht das umso mehr Sinn, spielten doch die Arbeiter*innen der Fiat-Werke eine zentrale Rolle in den Streiks, Demos und Protesten jener Zeit. Mit dieser Tradition machen die GKN-Beschäftigten heute weiter. Dabei kämpfen sie für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze und zugleich für eine ökologische und gemeinwohlorientierte Umstellung der Produktion.
Dario Salvetti sitzt im Gewerkschaftszimmer im Erdgeschoss der Fabrik. Es ist April, 21 Monate sind seit der Massenentlassung vergangen. Der Betriebsrat trägt einen Hoodie mit der Aufschrift »Collettivo di Fabbrica« (Fabrik-Kollektiv). Er erzählt, dass Beschäftigte in Campi Bisenzio bereits 2007 begannen, ein demokratisches, partizipatives Gewerkschaftsmodell zu entwickeln. So wollten sie sich effektiver vor dem Abbau von Arbeiterrechten und insbesondere vor den Praktiken schützen, die bei multinationalen Konzernen wie GKN typisch sind. »Eine dieser Praktiken besteht darin, Werksschließungen, Entlassungen und Verlagerungen jahrelang insgeheim vorzubereiten und sie letztendlich plötzlich zu verkünden.« Als 2018 die britische Investmentgesellschaft Melrose Industries mit ihrem unmissverständlichen Motto »Buy, Improve, Sell« (kaufen, verbessern, verkaufen) GKN aufkaufte, wurde das Fabrikkollektiv geboren – als breite, fluide Struktur, die die offizielle Gewerkschaft flankiert, um diese zu entbürokratisieren.
Da es das Fabrik-Kollektiv schon gab, war es den Arbeiter*innen am 9. Juli 2021 möglich, schnell zu reagieren. Den Tag hatten sie freibekommen – mit der Begründung, es gebe wenig Arbeit. Nach Erhalt der Kündigungsmail brachen sie zur Fabrik auf. »Hier wartete privates Sicherheitspersonal auf uns – in Zivil und mit Tasern bewaffnet«, erinnert sich Salvetti. Doch die Belegschaft fand einen Weg, in die Fabrik zu gelangen und die Kontrolle über das Werk zurückzugewinnen. Als Motto für ihren betrieblichen Abwehrkampf wählten sie »Insorgiamo« (»Erheben wir uns«), welches aus der antifaschistischen Befreiung von Florenz stammt. »Damit rufen wir zu einem kollektiven Aufschrei auf. Denn GKN ist kein besonderer Fall. Es braucht eine Änderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse«, erklärt Salvetti.
Innerhalb kürzester Zeit entstand eine breite Mobilisierungswelle um das Fabrik-Kollektiv, mitgetragen von Sozialzentren, Gewerkschaften, der radikalen Linken, aber auch Kirchengemeinden und Jugend-Fußballteams. 75 Tage nach der Kündigungsmail erklärte das Arbeitsgericht Florenz die Massenentlassung für unrechtmäßig. »Dann haben wir realisiert, dass die Allianzen, die sich spontan um uns herum ergeben hatten, für unseren Kampf überlebensnotwendig waren. So haben wir begonnen, sie bewusst zu fördern«, schildert Salvetti. Zunächst einmal ging das Kollektiv auf die Umweltbewegung zu. »Uns geht es nicht um das Recht an sich, Achswellen zu produzieren. Dass die Welt in eine Klimakrise hineinstürzt, gefällt uns nicht. Wir fordern also, dass die Produktion unter ökologischen Vorzeichen wieder aufgenommen wird.«
Als Mitglied der Untergruppe »Arbeit und Gewerkschaften« von Fridays For Future, ist Aktivist Emanuele Akira Genovese in engem Kontakt mit dem Fabrik-Kollektiv. »Mich hat von Anfang an ihr Bewusstsein in Bezug auf die Notwendigkeit einer Transformation der Autoindustrie beeindruckt«, sagt er. »Gleichzeitig haben wir uns darüber geeinigt, dass es soziale Maßnahmen zur Unterstützung von Degrowth-Politiken (Verringerung von Konsum und Wachstum im globalen Norden, Anmerk. d. Red.) braucht. So stellte die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich unsere erste gemeinsame Forderung dar.«
Die Allianz mit der Umweltbewegung führte zu gemeinsamen Demos mit Zehntausenden Teilnehmer*innen, aber auch zu einem umfassenden Reindustrialisierungsplan für das ehemalige GKN-Werk, der mit der Unterstützung von solidarischen Wissenschaftler*innen konzipiert wurde. Demnach sollen hier künftig Lastenräder und Solarzellen ohne Lithium, Silizium und seltene Erden hergestellt werden. Unter dem Motto »Ex-GKN for Future« wurden bereits rund 175 000 Euro dafür gesammelt. »Für die zweite Phase des Crowdfunding unterstützen wir als FFF gerade das Kollektiv bei der Suche nach größeren Investoren, und zwar europaweit. Gezielt wird jedoch auch auf einen staatlichen Eingriff«, so Genovese. Das sieht das Marcora-Gesetz vor, das in Italien das Vorkaufsrecht für die Belegschaft regelt.
Einen Konversions- und Finanzierungsplan zu entwickeln, wäre dabei eigentlich Aufgabe des neuen Inhabers Francesco Borgomeo. Dazu verpflichtete sich der Unternehmer, auch vor den Betriebsräten, als er das Werk im Dezember 2021 erwarb. Ab Januar 2022 zahlte er den Arbeiter*innen einen Lohnersatz aus eigener Tasche, gab sich aber zuversichtlich, diesen bald durch ein Transformationsarbeitergeld vom Staat finanzieren zu können. Letzteres wurde jedoch nie bewilligt, denn Borgomeo legte keinen Transformationsplan für das Werk vor. Vermutet wird daher, dass die Übernahme nur zu Spekulationszwecken stattfand. Borgomeo ließ die vereinbarte Frist des 31. August 2022 auslaufen und im darauffolgenden November setzte er die Lohnersatzzahlungen plötzlich aus. Die Arbeiter*innen blieben ohne Einkünfte – und zwar bis Juli 2023.
Wegen der finanziellen Notlage mussten viele Beschäftigte inzwischen selbst kündigen. »Für eine Arbeiter*innen-Gemeinschaft gleichen acht Monate ohne Gehalt einer Bombardierung«, sagt Salvetti am Telefon, ein paar Tage vor dem zweijährigen Jubiläum des Arbeitskampfes. Das Arbeitsministerium griff im Mai 2023 ein und genehmigte ein außerordentliches, rückwirkendes Kurzarbeitergeld. Das Geld begann jedoch erst im Juli zu fließen, nachdem die Belegschaft eine Woche lang auf dem San-Niccolò-Turm in Florenz protestierte. Das Kollektiv vermutet, dass Borgomeo die nötige Dokumentation lange nicht an die zuständige Arbeitsverwaltung übermittelte. Das beschlossene Kurzarbeitergeld komme für 200 Familien gerade wie Sauerstoff, sagt Salvetti, doch an sich bilde die Maßnahme einen gefährlichen Präzedenzfall für alle Arbeiter*innen im Land: »Denn sie legt eigentlich fest, dass es in Ordnung ist, monatelang keine Gehälter zu zahlen und somit Selbstkündigungen zu erzwingen. Und dann zahlt der Staat.«
Auch Antonella Bundu kritisiert das Vorgehen der Institutionen. »Es herrscht eine allgemeine Untätigkeit, auf nationaler wie auf lokaler Ebene«, sagt die linke Politikerin, die im florentinischen Stadtrat sitzt und sich dort für das Kollektiv starkmacht. Es werde nicht auf die Arbeiter*innen gehört, die eine Berücksichtigung ihres Reindustrialisierungsplans verlangen, welcher Arbeit in die Region und Geld in die Staatskasse bringen würde. »Statt den privaten Inhaber zur Zahlung zu zwingen, entlastet die Regierung ihn mit öffentlichen Geldern, obwohl er gar keinen Plan für das Werk hat.« Bundu betont zudem, dass das Kollektiv vor Gericht bisher immer Recht bekam: »Doch es kann nicht sein, dass sie sich jedes einzelne Recht Urteil für Urteil erkämpfen müssen.«
Bei all dem Desinteresse der Institutionen macht das Fabrik-Kollektiv einfach weiter. Gerade wurde eine Genossenschaft gegründet und die nächsten Schritte in Richtung der ersten öffentlichen und gemeinwohlorientierten Fabrik Italiens eingeleitet. Dass es dabei lange nicht mehr nur um die Ex-GKN geht, zeigen die Allianzen, die das Kollektiv mit anderen Arbeitskämpfen schmiedet. Aktuell solidarisiert sich die Belegschaft etwa mit den Fahrer*innen, Monteur*innen und Träger*innen des Möbelhauses Mondo Convenienza, die seit Mai gegen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen im ganzen Land streiken, unter anderem gerade in Campi Bisenzio. »Darin liegt eine echte Vereinigungs-Botschaft. Denn anders als bei der Ex-GKN sind das meistens Migrant*innen. Dass das Kollektiv auf sie zugeht, finde ich wichtig, weil Klassenausbeutung, Kapitalismus und Rassismus miteinander verbunden sind«, sagt Bundu.
Inzwischen ist die permanente Betriebsversammlung in der Ex-GKN von Campi Bisenzio bereits die längste in der Geschichte Italiens. So sprechen Unterstützer*innen gerne von einem historischen Ergebnis. »Ich würde sagen, wir sind immer noch stark genug, um nicht zu verlieren, aber zu schwach, um zu gewinnen. Nach zwei Jahren gibt es natürlich Stolz, aber auch Schmerz und Erschöpfung«, sagt Salvetti. Als Held*innen oder Vorbilder möchten die Arbeiter*innen nicht gesehen werden: »Wir fühlen uns eher wie jemand, der blutet und versucht, die Blutung mit den eigenen Händen zu stoppen. Gleichzeitig erklären wir dem Arzt, wie er operieren soll und machen Pläne für die Zukunft.«
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