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»Wie in jedem Beruf gibt es mal trocken Brot und dann wieder Sahnetorte«
Wolfgang Tiefensee über 25 Jahre in Kommunal-, Bundes- und Landespolitik und über den Umgang mit der AfD
Herr Tiefensee, was hätten Sie beruflich gemacht, wenn Sie nicht in die Politik gegangen wären?
Ich habe ja bis 1990 als Entwicklungsingenieur in Industrie und Hochschule gearbeitet, wahrscheinlich wäre das mein Berufsfeld geblieben.
Hätte Ihnen das ähnlich viel Spaß bereitet wie Ihre politischen Tätigkeiten?
Ganz sicher nicht. Ich habe meine Erfüllung in der Politik gefunden, ich habe Freude an der Arbeit mit den unterschiedlichsten Menschen. Den Ingenieurberuf in allen Ehren. Aber die Politik auf kommunaler und Landesebene, im Bund oder in Europa hat mir so viele spannende Gestaltungsmöglichkeiten geboten, wie ich sie wahrscheinlich im technischen Labor nicht gefunden hätte.
Vor ziemlich genau 25 Jahren sind Sie Oberbürgermeister von Leipzig geworden. Was hat Sie an der Kommunalpolitik fasziniert?
Das beginnt damit, dass der Bürgermeister oder Oberbürgermeister direkt gewählt ist. Sie oder er hat eine Mehrheit der Wähler als Person überzeugt, hat also einen starken Rückhalt. Und in der Kommunalpolitik geht es um konkrete Sachfragen, man kann direkt die Ergebnisse politischen Handelns sehen. Demokratie auf jeder Ebene bedeutet zu überzeugen und für alles mühevoll eine Mehrheit zu finden. So werden die unterschiedlichsten Meinungen austariert. Das ist anstrengend und faszinierend zugleich. Gleichermaßen wichtig ist die Arbeit mit den Abgeordneten. Schließlich die Teamarbeit in und mit der Verwaltung. Es braucht eine engagierte Mitarbeiterschaft, sonst wird kein noch so schön ausgedachtes Projekt realisiert.
Vor 25 Jahren wurde Thüringens heutiger Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee Oberbürgermeister von Leipzig. Von 2005 bis 2009 war er im ersten Kabinett von Gerhard Schröder Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, danach unter Kanzlerin Merkel Ostbeauftragter der Bundesregierung und Bundestagsabgeordneter. Seit 2014 ist der SPD-Politiker Wirtschafts- und Wissenschaftsminister von Thüringen. Mit »nd« sprach der 68-Jährige auch über seine Pläne für das Leben nach der Politik ab dem kommenden Jahr.
Aber ist Kommunalpolitik nicht auch oft sehr banal und langweilig? Den Arbeitstag mit dem Nachdenken darüber verbringen, welches Schlagloch geflickt oder welche Ampel erneuert werden muss, welches neue Spielzeug der städtische Kindergarten braucht…
Sie skizzieren ja gerade selbst die riesige Spannbreite der Themen: Stadtteile entwickeln, Schulen sanieren, BMW ansiedeln. Das ist weder banal noch langweilig. Wie in jedem anderen Beruf gibt es manchmal trockenes Brot und dann wieder Stücke von der Sahnetorte.
Leipzig ist eine Stadt mit über einer halben Million Einwohnern. Lassen sich Ihre Erfahrungen als Kommunalpolitiker dort überhaupt mit denen von Kommunalpolitikern im ländlich geprägten Thüringen vergleichen?
Hier wie dort wirken die gleichen Mechanismen, müssen die gleichen Sachaufgaben bewältigt werden. Im Vordergrund sollte immer die Suche nach der besten Lösung stehen, nicht Selbstverwirklichung oder das gegenseitige Ausbremsen. Zusammen mit meinem Vorgänger im Amt des Leipziger Oberbürgermeisters, Hinrich Lehmann-Grube, habe ich damals das sogenannte Leipziger Modell praktiziert. Kurz zusammengefasst: Es gibt weder Regierungs- noch Oppositionsseite im Stadtrat. Stattdessen werden alle gleichberechtigt in Entscheidungen einbezogen. Auf diese Weise habe ich es geschafft, den Stadthaushalt sieben Jahre lang einstimmig, also quer durch das Parteienspektrum, zu verabschieden. Jede Partei hat sich dort mit ihren wichtigsten Projekten wiedergefunden. In Gesprächen mit Kommunalpolitikern berichte ich oft über das, was mich antreibt: Auch lange nach dem Ende meiner Amtszeit möchte ich beim Stadtspaziergang sagen können: »Das haben wir gemeinsam geschafft.« Das Gegenteil hieße: »Das habe ich trotz besseren Wissens verhindert, weil nicht ich es angeschoben habe.«
Die Parteienlandschaft ist heute eine andere als zu jener Zeit, in der Sie Leipziger Rathauschef waren. Die AfD gab es damals noch nicht. Heute wird kontrovers diskutiert, ob es mit dieser Partei auf kommunaler Ebene eine Zusammenarbeit geben darf. Hätten Sie AfD-Leute eingebunden, wenn es die damals im Stadtrat gegeben hätte?
Die Frage ist, wie wir einbinden definieren. Ich würde es beispielsweise ausschließen, mit Vertretern dieser Partei gemeinsam Anträge zu erarbeiten. Mit rechtsradikalen Abgeordneten darf es keine Zusammenarbeit geben. Wer Menschengruppen verachtet, ist Persona non grata und disqualifiziert sich selbst. Unabhängig von der AfD und somit allgemein zur politischen Kultur: Ich halte nichts davon, einen Vorschlag allein deshalb in den Papierkorb zu werfen, weil er vom politischen Konkurrenten kommt.
Sie sehen die AfD als politischen Konkurrenten? Auch Mitglieder Ihrer Partei sagen, die AfD sei ein politischer Gegner, anders als Mitbewerber wie CDU oder Grüne…
Die Programmatik der AfD zielt auf Spaltung und Ausgrenzung, auf Herabwürdigung und Leugnung von Fakten. Hier braucht es klare Kante, klare Abgrenzung. Auf der kommunalen Ebene ist die AfD ein politischer Konkurrent, dem man ab und zu zugestehen kann, dass er in einer Sachfrage etwas beizusteuern hat.
Auf Bundes- und Landesebene ist die AfD ein politischer Gegner?
Wir brauchen in der Politik diesen Kampfbegriff nicht, wenn klar ist, dass Parteien immer im harten Wettbewerb miteinander stehen. Wohlgemerkt im Wettstreit, unser Gemeinwesen auf der Basis des Grundgesetzes voranzubringen. Die AfD formuliert dessen Artikel 1 um: Wessen Würde unangetastet bleibt, bestimmen wir. Das ist inakzeptabel, egal, ob ich die AfD als Gegner oder Konkurrent betrachte.
Klingt trotzdem danach, als hätten Sie Sympathien für die Überlegungen des Präsidenten des Thüringer Gemeinde- und Städtebundes, Michael Brychcy, der sich eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene vorstellen kann, weil die Schlaglöcher in seiner Stadt keine parteipolitische Farbe hätten.
Naja, wenn man Herrn Brychcys Äußerungen in Gänze liest, dann klingt das für mich danach, als versuche er eine Zusammenarbeit mit der AfD auch auf Landesebene vorzubereiten. Für mich ist es auf kommunaler Ebene entscheidend, Ideen ernst zu nehmen, abzuwägen und dann damit umzugehen – egal, von wem sie kommen. Manche Ideen sind völlig inakzeptabel, manche klug. Zur ersten Kategorie ein klares Nein, zur zweiten nachdenkliches Abwägen.
Sie sind bis 2005 Oberbürgermeister von Leipzig geblieben, waren dann unter anderem Bundesverkehrsminister und sind seit 2014 Wirtschaftsminister in Thüringen. Wie hat sich in diesen 25 Jahren aktiver Politik die Streitkultur verändert?
Die Kommunikation – die für eine Streitkultur so wichtig ist – hat sich total verändert. Sie ist nicht nur immer schneller, sondern auch immer zugespitzter geworden. Das gipfelt inzwischen darin, dass die Frage, welchem Argument sich jemand anschließt, verbunden wird mit der Frage nach der eigenen Identität. Anders ausgedrückt: Viele Menschen definieren heute ihre Identität, also sich selbst, über eine Meinung. Das wiederum führt dazu, dass sich Menschen zu einer Gruppe Gleichgesinnter zugehörig fühlen, die andere ausgrenzt. Dann geht es nur noch darum: ich und meine Gruppe gegen die anderen. Das Argument rückt in den Hintergrund, die Abschottung wird zum Prinzip. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt hat sehr viel mit den sozialen Medien zu tun und den Algorithmen, die dahinter liegen. Dort werden regelmäßig absurdeste Verschwörungstheorien nach oben gespült, einfach weil der Algorithmus Streit über Absurdes mit vielen Klicks im Vergleich zu unaufgeregtem Dialog bevorzugt. Der Eindruck entsteht, als werde das Absurde ebenso breit akzeptiert wie gesichertes Wissen. Nischenmeinungen können auf diese Weise gesellschaftliche Konflikte in einer Weise anheizen, als wären sie von einer breiten Masse getragen. Letztlich zählen Argumente, die Auseinandersetzung damit und die Suche nach einem Kompromiss heute viel weniger als vor 25 Jahren. Darauf müssen wir reagieren.
Wie?
Indem wir Bürgerinnen und Bürger anders und noch besser in unsere Entscheidungen einbeziehen. Ich bin lange Zeit jemand gewesen, der die parlamentarische, die repräsentative Demokratie für ausreichend gehalten hat, um Deutschland zu gestalten ...
… also das Konzept, nach dem alle wesentlichen Entscheidungen von gewählten Volksvertretern getroffen werden.
Ja. Spätestens seit der Thüringer Landtagswahl 2019 bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass das nicht mehr reicht. Wir müssen neue Wege finden, Menschen auch jenseits der regulären Wahlen Einflussmöglichkeiten zum Beispiel auf Gesetze zu bieten. Dabei könnten die sozialen Medien tatsächlich mal eine positive Rolle spielen. Entwickelt man Bürgerräte weiter und verbreitert sie internetbasiert und nur für die, die sich zuvor gründlich mit einer Materie beschäftigt haben, dann kann man mehr Argumente aufnehmen, die Menschen zu bestimmten Sachfragen vorbringen, und sie berücksichtigen.
Aber wenn Sie sich anschauen, was in den sozialen Medien los ist, dann dominieren da Hass und Hetze und nicht konstruktives Argumentieren.
Bürgerbeteiligung heißt nicht Kopie eines Chatverlaufs. Ich bin fest davon überzeugt, dass die große Mehrheit der Menschen kluge Vorschläge macht, ja kluge Entscheidungen fällen würde. Wir könnten sie über Foren oder internetbasiert eng in die Arbeit zum Beispiel des Landtags einbinden. Aber Vorsicht: Das darf keine Alibibeteiligung sein, sondern müsste echtes verantwortungsvolles Mitentscheiden bedeuten. Man muss der Mehrheit eine Stimme verschaffen, statt immer besonders auf die zu schauen, die in den sozialen Medien oder im Landtag krakeelen.
Sie haben angekündigt, einer nächsten Landesregierung nicht mehr angehören zu wollen. Was planen Sie für die Zeit danach?
Das stimmt. Ich bleibe in dieser Legislaturperiode noch Minister und werde so lange einer geschäftsführenden Landesregierung angehören, bis sich eine neue gebildet hat. Und dann möchte ich mich stärker sozialen Projekten zuwenden. Mich treibt zum Beispiel schon lange um, wie viele junge Menschen die Schule abbrechen oder sich der Schule ganz verweigern. Das hat auch mit meiner eigenen Biografie zu tun: Ich hatte in meinem Leben ganz großartige Chancen, weil ich aus einem behüteten Elternhaus komme. Es gibt ganz viele, die nicht solches Glück haben. Denen möchte ich in Zukunft viel stärker als zuletzt helfen.
Werden Sie das von Thüringen aus machen – oder von Leipzig aus?
Aus Thüringen, ich wohne seit Langem in Erfurt – eine traumschöne Stadt. Ich bleibe hier.
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