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Strukturwandel in der Lausitz: Forsts verlorene Verbindung

Seit 78 Jahren fehlt Forst eine innerstädtische Brücke über die Neiße nach Polen. Eine Initiative und die Bürgermeisterin wollen das ändern

  • Noah Kohn, Forst (Lausitz)
  • Lesedauer: 7 Min.
Über jedes Hindernis hinweg: Frank Henschel setzt sich dafür ein, dass die Lange Brücke in Forst nach Polen wiederaufgebaut wird.
Über jedes Hindernis hinweg: Frank Henschel setzt sich dafür ein, dass die Lange Brücke in Forst nach Polen wiederaufgebaut wird.

Frank Henschel schaut kopfschüttelnd auf Einschusslöcher im Beton. »Hier stand das Brückenmännchen, bevor es gestohlen wurde«, sagt er und zeigt auf den leeren Vorsprung eines alten Brückenpfeilers am Ufer der Neiße, wo die kauernde Skulptur einmal platziert war. »Wenn man genau hinschaut, lassen sich die Umrisse noch erkennen.«

Silhouetten der Vergangenheit: Nicht viel ist übrig von der Langen Brücke, die einst das Städtchen Forst über 170 Meter mit seinem Stadtteil Berge vereinte. Ein paar bewachsene Pfeiler bröckeln im Flussbett noch vor sich hin, ansonsten fehlt die Verbindung über das schleichende Gewässer. Die zurückweichende Wehrmacht hatte 1945 Sprengladungen an der Überführung angebracht, um den Vormarsch der Sowjet-Truppen zu behindern – durch Granatenbeschuss ging die Lange Brücke ein paar Tage eher hoch als geplant. Und auch den Seufzersteg 350 Meter weiter, der so hieß, weil er geradewegs zum Finanzamt führte, jagten die deutschen Einheiten in die Luft.

78 Jahre ist das her, seitdem hat Forst keine innerstädtische Brückenverbindung mehr über die Neiße. Frank Henschel will das ändern. Seit drei Jahrzehnten setzt er sich für den Wiederaufbau der 1922 errichteten Langen Brücke ein. »Wenn hier der Bagger anrückt, dann kommt hier auch was Gutes, Lebenswertes und Stärkendes für beide Seiten«, sagt Henschel. »Seit 30 Jahren versucht sich die Stadt der negativen Entwicklung von Forst irgendwie entgegenzustemmen«, führt der Sozialarbeiter aus. »Und ja, da sind Generationen von Abgeordneten schon durchgegangen, und alle mühen sich. Aber das Ergebnis ist, dass wir nun fast unter 18 000 Einwohnern sind. Eine Brücke könnte die Region wieder stärken.«

Übergang und Untergang liegen manchmal nah beieinander, das weiß wohl niemand besser als die Forster in der Lausitz. Nur wenige können sich an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erinnern, als die Stadt noch über 40 000 Einwohner zählte. Als der Handel blühte und die vielen Tuchfabriken Reichtum und Arbeit brachten – bis Hitler und die Deutschen den Krieg anzettelten und die Bewohner der Industriestadt am Ende dieses verbrecherischen Angriffskrieges mit anschauen mussten, wie die Sowjets den neu gebauten Stadtteil Berge auf der anderen Seite des Flusses beschädigten. Wie der Bereich jenseits der Neiße als Teil der Kriegsschuld unter polnische Verwaltung fiel. Wie polnische Arbeiter Stein für Stein die Trümmer ins Inland brachten, um inmitten der deutschen Zerstörungen Straßen und Häuser wiederaufzubauen. Wie polnische Grenzer Stacheldraht hochzogen. Wie ein ganzer Stadtteil verschwand.

Wer heute vom Forster Kegeldamm aus auf die polnische Seite hinüberschaut, erblickt Bäume und Gestrüpp. Auch Henschel kennt diesen Blick. »Aber ich sehe auch etwas Neues«, sagt der Visionär. Zwei kaputte Laternen und der Weberbrunnen direkt hinter der Langen Brücke lassen erahnen, dass hier einmal Menschen lebten. Eine Straße gibt es nicht, nur ein Sandweg führt ostwärts ins Landesinnere. Doch wo eine Brücke hinführt, wo ein Uferwechsel stattfindet, kann sich auch etwas verändern. »Ich traue gerade den Polen so unglaublich viel Initiative und Geschäftssinn zu, dass dort wieder etwas entstehen kann«, sagt Henschel.

Zusammen mit Ewa Wojciechowski ist er die treibende Kraft einer deutsch-polnischen Initiative, die sich für den Wiederaufbau der Langen Brücke einsetzt. Die gebürtige Polin Wojciechowski lebt in Forst, hat aber auch ein Haus im Dorf Zasieki ein paar Hundert Meter weiter am polnischen Ufer. Nachdem Berge an Polen gegangen war, wurde es in Zasieki umbenannt – das polnische Wort für Stacheldraht, wegen der Zäune an der ehemals schwer bewachten Grenze. Rund 300 Leute leben heute noch in Zasieki, das zur Gemeinde Brody gehört. »Es ist mir wichtig, dass die ehemalige Gegend, wo mal eine Stadt gewesen ist, an diesem Ort hier wieder verbunden wird«, sagt Wojciechowski. Vor acht Jahren habe sie angefangen, sich um den Platz mit dem Weberbrunnen zu kümmern, sagt die 62-Jährige. »Ich habe Rasen gemäht und Müll gesammelt. Am Ende waren das bestimmt 60 Säcke voll mit Müll.«

Als sie das erste Mal nach Forst kam, dachte sie: Mein Gott, warum macht man aus dieser Stadt nicht mehr? »Wir leben mitten in Europa«, sagt Wojciechowski, »nach Berlin sind es 120 Kilometer. Dresden, Poznań, Wrocław – alles ist in der Nähe und überall gibt es Flughäfen.«

Um die Jahrtausendwende wäre es fast schon einmal zum Bau einer innerstädtischen Brücke gekommen, letztlich entschieden sich die Stadtverordneten aber für einen Brückenschlag in Sacro am nördlichen Rand des Forster Stadtgebietes. »Die bringt einen von A nach B, aber die Menschen eigentlich nicht so richtig zusammen«, sagt Henschel. Er ist mit dem Auto rüber auf die polnische Seite der Langen Brücke gefahren. »Man muss erst mal sinnlos acht Kilometer durch die Gegend gondeln, um dort hinzukommen. Über eine Brücke in der Stadt könnte man die kurze Strecke mit dem Fahrrad fahren.«

Seit zwei Jahren arbeiten Henschel und Wojciechowski zusammen, tauschen sich aus, organisieren Infoveranstaltungen und bringen ihr Anliegen immer wieder an die Öffentlichkeit. Sie stoßen dabei teilweise auch auf Vorbehalte. Das Überqueren einer Brücke bedeutet auch, das Altbekannte zu verlassen, was bei einigen Mitbürgern Bedenken schürt: Die Sorge vor polnischen Billigmärkten, die den Forster Geschäften den Rang ablaufen, oder die Angst vor Dieben aus dem Nachbarland gehören zu den Vorurteilen, die Henschel und Wojciechowski dabei manchmal begegnen. »Ich ermutige dann einfach zu etwas Fantasie für einen neuen Weg«, sagt Henschel.

Das kommt an – inzwischen beschäftigt sich auch die Stadtpolitik wieder mit dem Thema. »Ich habe immer gesagt, ich werde mich dahinterklemmen und das tun, wenn die Forster das auch wirklich wollen«, sagt Simone Taubenek im Gespräch mit »nd«. Taubenek ist seit 2018 Bürgermeisterin von Forst. Gemeinsam mit anderen Stadtverordneten hat die Parteilose eine »Machbarkeitsstudie für eine innerstädtische Straßenverbindung über die Neiße« veranlasst, im Juni wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Neben der Langen Brücke wurden auch die Standorte Am Haag, Max-Fritz-Hammer-Straße und der Seufzersteg auf verschiedene Faktoren wie Lage, Anbindung und Denkmalschutz geprüft. Das Ergebnis: »Wenn es eine Brücke über die Neiße geben wird, dann am Standort der Langen Brücke«, sagt Taubenek.

Am 12. September soll ein Grundsatzbeschluss für den Bau einer Brücke in der Stadtverordnetenversammlung eingebracht werden. Weitere Schritte wären dann die Meldung an eine deutsch-polnische Brückenkommission und die Aufnahme in das Brückenabkommen. Taubenek sagt: »Die Meldung an die Brückenkommission ist nicht das Problem. Die Aufnahme in das Brückenabkommen könnte schon schwierig werden, wenn sowohl die deutsche als auch die polnische Seite eine andere Priorität hat.« Falls bis dahin alle Hindernisse überbrückt sind, können Fördermittel beantragt und schlussendlich mit der Projektplanung und -umsetzung begonnen werden. Auf 12,8 Millionen Euro werden die Kosten eines Wiederaufbaus der Langen Brücke in der Machbarkeitsstudie geschätzt. Taubenek scheint zuversichtlich – und neben ihrer Expertise als Volljuristin beherrscht sie auch die Grundtechniken der Wortakrobatik: »Einen Namen habe ich für eine mögliche neue Brücke schon lange: ›Brühl’sche Trasse‹«, sagt die Bürgermeisterin in Anlehnung an den sächsischen Staatsmann Heinrich Graf von Brühl, der in Brody sein Schloss hatte und dessen Sarkophag in der Forster Stadtkirche noch heute angeschaut werden kann.

Bis es so weit sein könnte, wird es wohl noch eine ganze Weile dauern, das weiß auch Brückenträumer Henschel: »Ich bin jetzt 56. Wenn ich noch vor der Rente über die Brücke gehen könnte, das wäre schon ein Ding!«

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