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Guatemala: »Arévalo trägt das historische Erbe seines Vaters«
Thelma Aldana über den Pakt der Korrupten in Guatemala und den Sohn des ersten demokratischen Präsidenten als Hoffnungsträger
Thelma Aldana, das Leben im Exil bedeutet einerseits Sicherheit, aber auch den Verlust der Heimat, die Trennung von Familie und Freunden. Sie sind in Guatemala immer noch populär und leben jetzt in Washington, der Hauptstadt der Hegemonialmacht Amerikas. Wie kommen Sie persönlich mit Ihrer Situation des Exils zurecht und wie konnten und können Sie sich von dort aus für ein gerechteres Guatemala einsetzen?»
Ins Exil gehen zu müssen ist schwierig, es bedeutet neue Gefühle der Frustration, der Angst und eine Menge Schmerz. Die Trennung von der Familie ist sehr, sehr hart. Sie ist abrupt. Als Mensch ist man nicht darauf vorbereitet. Zumindest war ich nicht darauf vorbereitet, mich von meiner Familie zu trennen. Und dann, na ja, die Freunde, das Klima, das Essen, nicht Englisch zu sprechen. Und es ist nicht nur das Exil, das hart ist. Wenn man dann noch die Kriminalisierung, die Verfolgung und die Verleumdungskampagnen hinzunimmt, ist es wirklich dramatisch. Ich war ja die erste unabhängige Anti-Korruptions-Juristin, die in ihrem eigenen Land unter diesen Schikanen zu leiden hatte. Als sie bei mir anfingen, verstand nicht einmal ich, worum es überhaupt ging. Also ja, es war extrem schwierig.
Erhielten Sie Unterstützung?
Ja. Von einigen der in Washington und New York lebenden Migranten habe ich viel Hilfe erhalten. Ich bin nach wie vor beeindruckt davon. Als Richter und Staatsanwälte im Exil haben wir verschiedene Treffen mit Kongressabgeordneten, mit Senatoren, mit dem Außen- und Justizministerium gehabt. Und mit verschiedenen Einrichtungen und Organisationen der Zivilgesellschaft in Washington. Wir haben unserer Stimme immer Gehör verschafft. Wir haben das Glück, dass man uns einlädt, dass man uns zuhört, dass man uns empfängt, dass man sich unsere Erfahrungen anhört. Und wir sind uns bewusst, dass wir nicht schweigen können. Und unsere Stimme erreicht verschiedene Teile der Welt.
Zusammen mit Ihnen sind mehrere Richter und Staatsanwälte aus Guatemala geflohen. Die Generalstaatsanwältin María Consuelo Porras, ihre Nachfolgerin, wird beschuldigt, ihr Amt dazu benutzt zu haben, Ermittlungen in Korruptionsfällen zu behindern und ihre Position dazu missbraucht zu haben, Regierungskritiker wie den Journalisten José Rubén Zamora zu verfolgen. Wie ernst ist die Lage in Guatemala heute, fast 30 Jahre nach dem Ende des bewaffneten Konflikts?
Guatemala befindet sich in einer Krise, aber es ist bereits eine ausgedehnte Krise, die Krise ist permanent, und Consuelo Porras, die Generalstaatsanwältin, ist die Bannerträgerin der Rache, die sie gegen diejenigen von uns hegt, die gegen die Korruption kämpfen, als unabhängige Justizakteure, als unabhängige Presse, als unabhängige Menschenrechtsverteidiger. Und der Fall von José Rubén Zamora ist ein Beispiel dafür, wie Consuelo Porras den Justizapparat nutzt, um sich an Rubén zu rächen. Und das Gleiche hat sie mit uns gemacht. Consuelo Porras wurde von der Regierung der Vereinigten Staaten auf die nach dem Initiator benannte Engel-Liste für Korruption gesetzt. In ihr haben wir also eine Vertreterin dieser dunklen Sektoren Guatemalas.
Als Generalstaatsanwältin haben Sie gemeinsam mit Iván Velásquez und der UN-Kommission gegen Straflosigkeit Cicig Korruptionsnetzwerke aufgedeckt und strafrechtlich verfolgt. Wir erinnern uns an den Fall La Línea und den Sturz von Präsident Otto Pérez Molina und Vizepräsidentin Roxana Baldetti. Wie müssen wir uns hier in Europa diese Netzwerke und diesen «Pakt der Korrupten» vorstellen?
Als wir die Untersuchungen mit der Cicig durchführten, kamen wir zu dem Schluss, dass es sich um illegale, politische und wirtschaftliche Netzwerke handelt, die im guatemaltekischen Staat verankert sind. Sie bestehen schon seit Jahrzehnten. Und wir als Generalstaatsanwaltschaft haben diese Netzwerke im Jahr 2015, zwar in Bedrängnis gebracht, aber nicht genug, weil wir nicht genug Zeit hatten. Ein Teil des Mandats der Cicig war es, dafür zu sorgen, diese Ciacs, die illegalen Einrichtungen und geheimen Sicherheitsapparate aufzulösen, die während des internen bewaffneten Konflikts Menschen entführt, gefoltert und getötet hatten. Diese Strukturen blieben nach Ende der Diktatur bestehen, blieben im guatemaltekischen Staat verankert und wurden zu diesen Korruptionsnetzwerken, von denen wir heute sprechen. Niemand sagt, ich bin derjenige, der den korrupten Pakt vertritt. Es sind Sektoren, die sich verändern, aber sie sind seit Jahrzehnten da.
Handelt es sich nur um ein illegales Bereicherungsnetz oder um eine De-facto-Macht unter der Fassade der Demokratie?
Beides. Es ist ein Pakt, um zu regieren, die Demokratie gefangen zu halten und die Kontrolle, die sie haben, zu nutzen, um sich selbst zu bereichern, um die Ressourcen des Staates zu plündern. Und sie bewegen die Politik, sie bewegen die politischen Parteien, sie bewegen sich im Kongress der Republik. Sie gehen ziemlich intelligent vor! Wo fangen sie an? Indem sie Gesetze machen, Gesetze zur Straffreiheit, Gesetze zur Manipulation. Zum Beispiel die Gesetze des Justizsystems. Es geht darum, schwache Gerichte und Tribunale zu haben, weil dieser Pakt von korrupten Leuten keine starken Institutionen will. Sie beginnen mit den Gesetzen. Sie machen weiter mit den politischen Prozessen. Alle vier Jahre gehen in Guatemala, wie wir alle wissen, zwei der Korrupten regelmäßig in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl. Und dann sagen die Menschen in ihrem Wunsch, das Land zu retten: ›Lasst uns für den am wenigsten Schlechten kämpfen‹, und der am wenigsten Schlechte entpuppt sich als schlimmer als derjenige, der das Amt verlässt. Das ist die dramatische Geschichte Guatemalas.
Dieses Mal hat es mit Bernardo Arévalo ein Nicht-Korrupter in die Stichwahl geschafft. Gibt das Hoffnung?
Ich glaube an die Demokratie, ich glaube, dass der Gang zur Wahlurne und die Stimmabgabe immer noch der Mechanismus und das Instrument sind, um Demokratie aufzubauen. Und gerade jetzt befinden wir uns in Guatemala in diesem Prozess, in dem das Volk am 25. Juni zur Wahl gegangen ist und mit Bernardo Arévalo einen Antikorruptions-Kandidaten in die Stichwahl am 20. August geschickt hat. Im Moment befinden wir uns in einer Krise, in der Consuelo Porras versucht, die Anti-System-Partei Movimiento Semilla zu beschädigen. Das ist die politische Partei, die von jungen Menschen zwischen 18 und 35 Jahren getragen wird, die den Kandidaten Bernardo Arévalo in die zweite Runde gebracht haben. Informierte junge Menschen, die die Situation in Guatemala verstanden und die bereits die Führung übernommen haben. Das ist eine Tatsache, die mir gefällt und die mich hoffnungsvoll stimmt. Unsere Hoffnung ist nun, dass Bernardo Arévalo am 20. August ohne illegale Wahlfinanzierung die Stichwahl gewinnt. Das ist die Herausforderung.
Bernardo Arévalo trifft in der zweiten Runde auf Sandra Torres. Man könnte positiv analysieren, dass Guatemala den ersten Anti-Korruptions-Präsidenten oder die erste Frau ins Amt wählen wird. Torres tritt ja bereits zum dritten Mal an und war bislang jeweils in der Stichwahl gescheitert. Und sie war schon einmal First Lady, als damalige Ehefrau von Präsident Álvaro Colom ...
Sandra Torres hat leider durch ihr Verhalten gezeigt, dass sie eine Verbündete des Paktes der Korrupten ist. Sie gehört zur alten Politik. Sie ist eine der Politikerinnen in Guatemala, die den Staat als Plattform für korrupte Allianzen benutzt hat. Sie hatte ja schon einen Fall von illegaler Wahlkampffinanzierung. Wir würden mit ihr noch mehr vom Gleichen bekommen.
Und Bernardo Arévalo?
Er hat ja einen berühmten Vater, José Arévalo, der erste gewählte Präsident des sogenannten demokratischen Frühlings in Guatemala, nachdem 1944 der Diktator Jorge Ubico gestürzt wurde. Arévalos Nachfolger Jacobo Árbenz wurde dann 1954 vom Militär mit Unterstützung der US-Geheimdienstagentur CIA weggeputscht. Bernardo Arévalo würde im Falle seiner Wahl der erste Präsident eines neuen demokratischen Frühlings in Guatemala sein. Denn er hat auch durch sein Handeln gezeigt, dass er ein Mensch ist, der bereit ist, die Korruption zu bekämpfen. José Arévalo galt und gilt als der beste Präsident in der Geschichte des Landes. Ich denke, dass es für einen Sohn, der Moral und Würde besitzt, eine große Last ist, dieses politische Erbe zu tragen. Aber ich sehe in ihm die Kraft und die Integrität, seinem Vater Ehre zu erweisen und für Demokratie und den Rechtsstaat in Guatemala zu kämpfen.
Auffallend ist, dass Sandra Torres erneut außerhalb der Hauptstadt gewonnen hat, während Arévalo in den Ballungsgebieten mehr Unterstützung hat. Somit haben wir wieder einmal eine polarisierte zweite Runde zwischen Land und Stadt, zwischen arm und nicht-so-arm, zwischen spanischstämmigen Ladinos und Indigenen. Wie kann diese Spaltung überwunden werden?
Man überwindet sie, wenn man die Lebensbedingungen der Menschen auf dem Land verbessert, wenn es eine Volkswirtschaft gibt, die auf Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit beruht. Bislang haben Parteien im Wahlkampf und Regierungen die Menschen mit Almosen manipuliert. Wie es auch Sandra Torres und ihre UNE-Partei getan haben. Die Menschen sind gerade auf dem Land oft bitterarm und dankbar für jede Hilfe. Sie wissen nicht, dass der Staat eine Verpflichtung hat, die mehr ist als nur eine Bolsa Solidaria zu verteilen (so der Name des Sozialprogramms der damaligen First Lady Sandra Torres, d. Red.). Der Staat hat die Pflicht, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie unter würdigen Bedingungen leben und arbeiten kann. Wenn diese Überzeugung auch bei der ländlichen Bevölkerung reift, glaube ich, dass gerade das ländliche Guatemala zum Garanten einer guatemaltekischen Demokratie werden wird.
Was können die europäische Zivilgesellschaft und die europäische Politik tun, um die Zivilgesellschaft und die demokratischen Kräfte in Guatemala zu unterstützen?
Die Europäische Union (EU) hat die Stärkung des Justizsystems in Guatemala stets unterstützt. Ich denke, dass die EU sehen sollte, dass das Justizsystem, das sie mit aufgebaut hat und das sie immer unterstützt hat, jetzt zur Straflosigkeit, zur Kriminalisierung und zur Verfolgung benutzt wird. Ich denke also, dass es sich lohnt, eine Erklärung dazu abzugeben. Guatemala braucht sehr viel internationale Unterstützung. Ich denke, es ist entscheidend, der guatemaltekischen Demokratie gerade jetzt zu helfen. Sich dafür einzusetzen, dass das Votum der Bürger respektiert wird und nicht manipuliert wird! Die Unterstützung der europäischen Zivilgesellschaft in Deutschland ist von grundlegender Bedeutung, denn die guatemaltekische Zivilgesellschaft wird verfolgt und kriminalisiert und braucht diese Unterstützung. Sie ist lebenswichtig.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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