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Das Mädchen, das nicht zu spät kommen konnte

Lieber knackige grüne Äpfel genießen als ständig zu telefonieren

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Es war einmal ein Mädchen, das kam nie zu spät. Das Mädchen war es gewohnt, immer und überall die Erste zu sein, nicht unbedingt überpünktlich, aber eben, im Gegensatz zu den anderen, immer pünktlich. Sie versuchte, sich anzugewöhnen, wenigstens manchmal zu spät zu kommen, zu ausgewählten Terminen, nicht extrem spät, aber, wie man sagt, casually late, gerade noch innerhalb des akademischen Viertels, aber doch spürbar unpünktlich, so wie die Eltern damals im Kindergarten.

Es klappte nicht: Immer, wenn das Mädchen absichtlich zwanzig Minuten später als sonst losging, waren die öffentlichen Verkehrsmittel auf ihrer Seite: Die U-Bahn kam zu früh, der Anschlussbus genau pünktlich. Das Phänomen, dass die S-Bahn einem direkt vor der Nase abfährt, war ihr fremd – sie war immer die Letzte, die es in die abfahrende U-Bahn schaffte, auch ohne zu hetzen oder zu rennen, sie schlenderte einfach zur Tür herein, die sich direkt hinter ihr schloss.

Als einmal eine telefonierende Person ihre Hand in die sich schließende Zugtür steckte, half sie ihr mühsam, sie wieder herauszuschieben. Es war eine groteske Szene: Die Person stand draußen, mit Kopfhörern in den Ohren und unterhielt sich über eine Wohnungsrenovierung. Die Hand, in der die Person ihr iPhone hielt, befand sich in der U-Bahn, die jeden Moment loszufahren drohte. Ein paar Sicherheitsleute kamen von hinten angerannt und zogen die Person, die immer noch in aller Ruhe über die Qualität verschiedener Wandfarben diskutierte, aus dem potenziellen Mordinstrument, dem Zug.

Das Mädchen überlegte einen Moment lang, der beunruhigend ruhigen Person das iPhone aus der Hand zu nehmen – oder zumindest die Kopfhörer herauszuziehen. Die Person am Telefon draußen sagte, immer noch erstaunlich entspannt: »Die Leute im Farbenladen sagen, die Kreidefarbe hat jetzt eine andere Farbe, weil sich die Kreidefelsen auf der Insel Rügen durch den Klimawandel verändert haben, es ist nicht mehr wie damals bei Caspar David Friedrich.«

Das Mädchen kam also niemals zu spät, auch wenn sie es eigentlich wollte – und die Erfahrung, auf andere warten zu müssen, gehörte zu ihrem Leben wie das tägliche Essen eines Granny-Smith-Apfels. Sie begann, immer während der Wartezeiten einen solchen grünen Apfel zu essen, den sie am Gemüsestand direkt an der U-Bahnstation erwarb – auf Parkplätzen, vor Kneipen, Bars oder Restaurants, vor Konzerthallen, Flughäfen oder Theatern. Sie war zu schüchtern, um allein hineinzugehen und sich ein Getränk zu bestellen, denn sie war besorgt, die Leute könnten denken, sie wäre versetzt worden. Sie selbst machte sich keine großen Sorgen, versetzt zu werden, denn sie hatte ja die Erfahrung gemacht, dass ihre Verabredung schlussendlich fast immer am verabredeten Ort eintraf, wenn auch verspätet, aber sie machte sich viele Gedanken darüber, was andere Leute von ihr denken könnten. Sie genoss den grünen, knackigen Apfel jedes Mal.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.

dasnd.de/hohmann

An apple a day keeps the doctor away. Aber: Wer ist eigentlich Granny, Großmutter Smith? – In der Französischen Revolution hat man auch auf die Uhren geschossen.

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