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Das gesehene Geräusch

Wie kann jüdische Kunst aussehen? Über das Erlebnis von Synästhesie und Geschichte

  • Gundula Schiffer
  • Lesedauer: 6 Min.
Könnte dies der Bote sein, der am Berg Horeb stand, als Moses die Gesetzestafeln empfing? Gemalt von Nikolai Estis
Könnte dies der Bote sein, der am Berg Horeb stand, als Moses die Gesetzestafeln empfing? Gemalt von Nikolai Estis

Gibt es jüdische Kunst? Als künstlerisches Schaffen, für das bestimmte verbindende Motive und eine eigene jüdische Formensprache charakteristisch ist? Angesichts des Antisemitismus-Skandals der vergangenen Documenta hatten Jana Talke und Alexander Estis in der »Neuen Zürcher Zeitung« gefragt: »Wäre es nicht an der Zeit für eine jüdische Weltkunstschau?«

Als ein Schritt in diese Richtung wurde Ende März in Schloss Brake in Lemgo eine Ausstellung mit Werken jüdischer Künstler*innen eröffnet. Sie gehörte zum Programm des dreitägigen »Fests der jüdischen Kunst«, kuratiert von Alexander Estis und mir, in Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde Herford-Detmold.

Gezeigt wurden hebräische Psalmen-Drucke von Josua Reichert und Karl Neuwirth, gemalte Farb-Stürme von Nikolai Estis und Papier-Reliefs von Lydia Schulgina. Jede der drei Werkgruppen, die bis Ende April zu sehen waren, ist auf individuelle Weise in der jüdischen Tradition beheimatet. Zugleich bot die Ausstellung eine Synästhesie im Dreiklang: das gesehene Geräusch. Eine Besucherin stellte mit Blick auf einen der Psalmen-Drucke fest: »Hier kann man die Klänge sehen.«

Der Relief-Zyklus von Lydia Schulgina trägt den Titel »Stimmen«. Die Technik, nach der ihre Reliefs und Skulpturen gefertigt sind, hat die Künstlerin selbst entwickelt und ihnen damit eine ungebrochene Einmaligkeit verliehen. Sie sind aus altem, in weiße Wandfarbe getauchtem Zeitungspapier modelliert. Die großen Leinwände, an denen diese zarten, fragilen, allein von Zeitungspapier zehrenden Körper hängen, lassen an eine Totenbahre oder Holzplanke denken. Die »Stimmen«, die aus den markanten Mündern dringen, kann man förmlich sehen.

Vergleichbares gilt für die Psalmen. Diese Gedicht-Gebete, die seit Jahrhunderten in Synagogen und Kirchen vor allem gesungen werden, erfüllten nun als Schrift-Bilder, in denen es vor Versen summt wie in einem Bienenstock, den Raum. Und ganz ähnlich rauscht es auch in den Gemälden von Nikolai Estis. Er rührt in der Nachfolge der Ikonenmaler die Pigmente für seine Temparafarben selbst an. Die energetische Wucht der Pinselführung erinnert an den Furor einer schreibenden Hand, die kaum mehr anderes mitteilt als nur ihren schönsten inneren Sturm.

Der Haidholzener Psalter von Josua Reichert und Karl Neuwirth stellt das einzigartige Unternehmen dar, den Psalmen ein Layout zu geben, das Methoden der jüdischen Schrifttradition in eine moderne Ästhetik einbettet. Denn mittelalterliche Handschriften zeugen in Ansätzen davon, dass zentralen Dichtungen des Tanach, der hebräischen Bibel, etwa dem Meerlied (Ex 15) oder dem Abschiedslied des Mose (Dtn 32), grafisch eine besondere poetische Form gegeben wurde. Verbindungslinien der Psalmen zu den Werken von Nikolai Estis sind zunächst über die starken Farben gegeben, die in den Psalmen-Drucken ähnlich wie in der Malerei zu strukturdeutenden Gestaltungselementen werden.

Verbindungslinien der Psalmen zu Lydia Schulginas Relief-Zyklus »Stimmen« sind nicht nur durch die biblischen Motive offenkundig, die die Künstlerin ausformt, sondern weil die gehörten Stimmen in den Papier-Skulpturen verborgen bleiben. In den Psalmen-Partituren dagegen ist die Botschaft unserer Ahnen nachlesbar fixiert.

Psalm 22 etwa ist sowohl jüdischen wie christlichen Menschen vertraut, da Jesus die Anfangsverse am Kreuz gesprochen hat: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Im poetischen Layout dieses Psalms zeichnet sich bei Josua Reichert und Karl Neuwirth die Form eines Kreuzes oder einer gitterartigen Tür ab.

Wenn Gott sich zeigt, gerät die Natur in Aufruhr: Seine Stimme zerbricht Zedern (Psalm 29,5), der Himmel flackert im Wetterleuchten. Es sind Urszenen einer Berührung von Himmel und Erde. In den Gemälden von Nikolai Estis ereignet sich diese Berührung als ein Aufeinanderstoßen im Tremendum, im ehrfürchtigen religiösen Erschauern. Darum ist der »Rote Bote«, wie ich dieses Gemälde von Nikolai Estis nennen würde, ein Lieblingsbild von mir. Ich stelle mir vor, dass dieser Bote mit am Berg Horeb stand, als Moses die Gesetzestafeln empfing und Gott den Bund mit seinem Volk schloss.

In der Zeit, als ich begann, mich dem Schaffen Lydia Schulginas zu nähern, stieß ich auch auf die israelische Lyrikerin Shai Schneider-Eilat. In ihrem Zyklus »Der Pekannusskuchen und der Tod oder To Draw the Line« wird der unheimliche Vergleich zwischen einem toten Körper und einer Handpuppe gezogen, die man »nach Herzenslust bewegen« und sprechen lassen kann. Der zentrale Eindruck, dass Schulginas aus Zeitungspapier erstandene Figuren etwas mit Puppentheater und dem Tod zu tun haben, erhielt tatsächlich eine poetische Regieanweisung. Eines der Reliefs trägt Worte des Propheten Jeremia als eine Art Bildunterschrift (V. 31,15): »Rachel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen, denn sie sind nicht mehr da ...« Es inszeniert eine so wohl noch nicht dagewesene Variation des Pietà-Motivs: Der erwachsene Gekreuzigte schwebt über der Brust seiner Mutter Maria.

Erst viel später entdeckte ich in den Äußerungen Schulginas zu ihrer Arbeit einige Zeilen, die von der Gegenwärtigkeit der Shoah sprechen: »Dies sind die Stimmen der Getöteten – diejenigen, die bis zu uns durchgedrungen sind, eingefangen beim Verrichten gewöhnlicher menschlicher Tätigkeiten, Küche, Dampfbad, Spiele der Kinder. Doch dies zu verstehen, hat bloß der Eingeweihte ein Recht. Die anderen werden nichts als eine einfache Serie Porträts vor sich sehen.«

Aus den von Martin Buber herausgegebenen »Erzählungen der Chassidim« stammt die Miniatur »Das Flüstern«, die sich auch gut als Bildunterschrift für eines der Reliefs eignen würde. Der große Maggid, der hochverehrte »Erzähler« und »Prediger« Rabbi Dow Bär von Mesritsch empfängt als Medium selbst die leisesten Schallwellen: »An einem Freitagabend, nach dem Mahle im Haus des Maggids von Mesritsch, ging Rabbi Ahron in seine Herberge und begann flüsternd das Hohelied zu sprechen. Da kam der Diener des Maggids und pochte an seine Tür: Der Maggid könne nicht schlafen; denn das Hohelied dröhne ihm in die Ohren.«

So wünsche ich mir, dass uns Stimmen, wie sie in den Psalmen-Blättern von Josua Reichert und Karl Neuwirth, den Gemälden von Nikolai Estis und den Reliefs von Lydia Schulgina aufgehoben sind, weder aus den Augen noch aus dem Sinn gehen. Und aus den Ohren sowieso nicht. Wovon ließe man sich lieber beschwören als von Kunst?

Wer das selbst erleben möchte – unser »Fest der jüdischen Kunst« kehrt wieder. Denn das »Wesen des Fests«, sagt Fran Rosenzweig, ist »Wiederkehr« und »Wiederholung die große und einzige Form, die der Mensch zum Aussprechen seines ganz Wahren hat«. Weitere Aufführungen sind jedenfalls an verschiedenen Orten in Deutschland geplant, so Ende Mai nächsten Jahres in Köln.

Gundula Schiffer ist Dichterin, Hebräisch-Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin. Im März organisierte sie zusamen mit dem Schriftsteller Alexander Estis und anderen in Herford und in Lemgo ein dreitägiges »Fest der jüdischen Kunst«.

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