Niger: Die Hotspot-Strategie der EU schlug fehl

In der Zustimmung zum Putsch drückt sich die Unzufriedenheit der nigrischen Bevölkerung mit der Destabilisierung des Landes aus

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.

Warum unterstützt die nigrische Bevölkerung Putschisten, die noch bis vor kurzem Parteigänger des Präsidenten waren? Im Vorfeld gab es in dem Land keine Massenproteste vergleichbar mit denen vor dem Putsch in Mali im August 2020, trotzdem haben die Putschisten es innerhalb weniger Tage geschafft, ein »nationalistisches Feuer zu entfachen«, sagt der Soziologe Olaf Bernau bei einem Hintergrundgespräch des Mediendiensts Integration. Für den Niger-Kenner und Mitbegründer des transnationalen Netzwerks »afrique-europe-interact« ist das nicht mit der Agenda der Putschisten zu begründen, sondern mit einer großen Unzufriedenheit mit dem Status quo. »Für Teile der Bevölkerung ist der Putsch zumindest ein Bruch und damit die Chance auf einen Neuanfang«, sagt Bernau. Die aktuellen Proteste werden überwiegend von der M62 angeführt, einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, die schon in der Vergangenheit gegen die französische Militärpräsenz demonstrierte, in der Bevölkerung aber nicht unumstritten ist.

Die nigrische Politik der vergangenen Jahre hat sich stark an den Interessen der Europäischen Union orientiert. Schon seit den 90er Jahren ist Niger ein wichtiges Transitland für Migrant*innen und Flüchtende auf dem Weg nach Europa. Mit Beginn des Konfliktes in Mali 2012 verstärkte sich diese Entwicklung noch. 2016 schloss die EU einen »Migrationspakt« mit dem Land und zahlte große Geldsummen an Niger unter der Voraussetzung, dass das Land Migrant*innen von der Weiterreise abhält. Bereits im Jahr zuvor verabschiedete das nigrische Parlament auf Druck der EU ein Gesetz, das formell Menschenhandel unter Strafe stellt, de facto aber jegliche Dienstleistungen für Migrant*innen kriminalisiert. In der Folge verloren viele Fahrer*innen, Hostelbetreibende und Vermittler*innen ihre Existenzgrundlage.

Galt Migration seit jeher als normaler Teil des Lebens und Anpassungsstrategie an die Lebensbedingungen im Sahel und für viele auch Einkommensquelle, wurde die Bewegungsfreiheit auch der Nigriner enorm eingeschränkt – ein Verstoß gegen die Freizügigkeit der Teilnehmer der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas).

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Das hatte zur Folge, dass sich in der Stadt Agadez, dem »Nadelöhr« zur Sahara, die Zahl der Flüchtenden in kurzer Zeit verdoppelt hat, ohne dass sich die Infrastruktur verbessert hätte. Neben den Menschen, die in Niger von der Weiterreise abgehalten werden, kommen zahlreiche Menschen dort an, die mit Hilfe der EU etwa aus Algerien nach Niger abgeschoben werden. Allein im ersten Halbjahr 2023 seien das 20 000 Menschen gewesen. In Agadez sei seit der Kriminalisierung von Migrationshilfen der Drogenhandel explodiert, es komme immer öfter zu Überfällen und Demonstrationen gegen und Angriffen auf Geflüchtete. »Diese Hotspot-Strategie schafft extremen Unfrieden in den Gesellschaften und führt zu einer allgemeinen Destabilisierung. Das drückt sich auch in der Zustimmung zu diesem Putsch aus«, sagt Bernau. Die Ursache für den Putsch sei es allerdings nicht.

Was der Umsturz jetzt für die Migrant*innen vor Ort bedeutet, sei noch unklar. In der Vergangenheit führten derart unsichere Entwicklungen oft zu einem Momentum, wo sich mehr Menschen auf den Weg nach Europa machten, in der Hoffnung, »unter dem Radar« durchzukommen, wie etwa in Tunesien nach dem sogenannten Arabischen Frühling 2011. Doch die Erfahrung zeige, dass Krisensituationen durch den großen wirtschaftlichen Druck im Sahel eher zu Stillstand führten, so Bernau. Das Militär hat am Mittwoch die Grenzen zu den Nachbarstaaten wieder geöffnet. Auch die Nachbarstaaten Nigeria, Libyen und Algerien haben kein Eigeninteresse an Grenzschließungen.

»Die Generäle machen einen opportunistischen Eindruck und haben die bisherige Westorientierung mitgetragen«, sagt Bernau. Allerdings sei es möglich, dass sie wie auch andere Länder, die Migrationsfrage als Druckmittel gegenüber der EU nutzen könnten und etwa eine neue Verhandlung des Migrationspakts anstreben könnten.

Die pauschale Verurteilung des Putsches und Unterstützung der Ecowas durch westliche Regierungen hält Bernau für einen Fehler. In Mali habe man gesehen, wie eine für demokratische Prozesse offene Situation innerhalb kurzer Zeit gekippt sei in eine starke Eskalation mit dem Westen. Er appelliert auch an die Bundesregierung, diese Fehler jetzt nicht zu wiederholen: »Wenn die EU ein anderes Standing in der Region haben möchte, muss sie in Vorleistung gehen und beispielsweise entwicklungspolitische Maßnahmen an den Start bringen, um die ökonomische Lage der Bevölkerung zu verbessern.« Statt die »große Keule zu schwingen«, brauche es eine vermittelnde Politik. Alles andere führe dazu, dass sich die Bevölkerung hinter den Putschisten versammele, nicht zu einer Demokratisierung des Niger, so Bernau.

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