Schwarz-Rot in Berlin: 100 Tage Einfältigkeit

Stillstand statt Aufbruch: Nach 100 Tagen Schwarz-Rot hat sich wenig bewegt

Zur ersten Hürde gibt man sich bescheiden – und leise: Keine Pressekonferenz, keine Pressemitteilung, nicht einmal ein großes Interview gibt es zum hunderttägigen Jubiläum des schwarz-roten Senats am Freitag. Selbst die Senatspressekonferenz, die traditionell gerne für Werbung in eigener Sache genutzt wird, fand in dieser Woche planmäßig nicht statt.

Neben dem Umstand, dass mehrere Senatoren aktuell noch im Urlaub weilen, dürfte das ungewöhnlich stille Passieren der ersten Wegmarke wohl auch darin begründet sein, dass die Bilanz des CDU-SPD-Senats bislang überschaubar ist. »Jetzt sind Dinge möglich, die zuvor nicht möglich waren«, sagte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) dem »Tagesspiegel« am Mittwoch. »Der Senat liefert jetzt«, pflichtete ihm SPD-Fraktionschef Raed Saleh bei.

Wahrnehmbar ist das bislang nur selten. Von den Maßnahmen, die für die Stadtbewohner unmittelbar sichtbar sind, wurde bislang nur eine umgesetzt: die erneute Freigabe der Friedrichstraße für den Autoverkehr. Seit Juli darf es nach einer Entscheidung von Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) auf der Einkaufsstraße wieder nach Abgasen duften. Zuvor war die Straße im Abschnitt rund um den U-Bahnhof Stadtmitte drei Jahre lang auf Anordnung der damals grünen Verkehrsverwaltung und des ebenfalls grün geführten Bezirksamts nur für Fußgänger und Radfahrer zugänglich.

Die überschaubare Zahl der Anwohner, vor allem aber die dort angesiedelten Gewerbebetreiber, bejubelten die Entscheidung, auch Autofahrer, die die Friedrichstraße als Durchfahrtsstraße nutzen, durften sich freuen. Das Thema ist jetzt vorerst abgeräumt, die darunterliegenden Konflikte bleiben aber ungelöst.

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Das musste Verkehrssenatorin Schreiner kurz darauf lernen, als sie reichlich unbeholfen in die bislang größte Kontroverse der dreimonatigen Amtszeit des Senats stolperte: Im Juni stoppte Schreiner kurzzeitig alle Radwegprojekte in der Stadt und erklärte, sie alle auf den Prüfstand stellen zu wollen. Die Aufregung folgte auf dem Fuß: Radfahrer- und Umweltverbände gingen auf die Barrikaden, die Opposition warnte vor einer »Rückschrittskoalition«, die Berlin wieder zur Autofahrermetropole machen wolle.

Die große Wende blieb am Ende aus. Man weiß nicht, ob es die Reaktion der Öffentlichkeit oder Sachgründe waren, die die Verkehrsverwaltung umstimmten, doch am Ende der Prüfung stand fest: Es bleibt – fast – alles beim Alten. Nur drei der etwa geplanten 20 Radwege an Hauptstraßen werden nicht weiterverfolgt. Für die Opposition war das die nächste Vorlage: Der Senat wisse selbst nicht, was er erreichen will, lautete der Vorwurf. Selbst Raed Saleh vom Koalitionspartner SPD sprach von einem »Kommunikationsdesaster«. Schreiner ist so das Kunststück gelungen, sich selbst den Nimbus der Fahrradwegverhinderin anzuhängen und zugleich Autofanatikern zu vermitteln, dass ihren Ankündigungen nicht viele Taten folgen.

Dabei hatte Schwarz-Rot alles daran gesetzt, solche Pannen zu vermeiden. Zu frisch ist noch die Erinnerung an den Dauerstreit in der rot-grün-roten Vorgängerregierung, der nach dem Amtsantritt der Ex-Regierenden Franziska Giffey (SPD) vollkommen eskalierte. Unkenrufe vom »Chaos-Senat« passten da nicht ins Bild. Entsprechend leise verliefen die Haushaltsverhandlungen im Juli.

Befürchtet worden war zuvor ein Kahlschlag bei den öffentlichen Mitteln. Die hatte nicht zuletzt Finanzsenator Stefan Evers (CDU) angefeuert, als er wenige Tage nach Amtsantritt die Koalition nach drei Jahren Mehrausgaben durch Corona und Energiekrise auf einen Sparkurs einschwor. Bezirke warnten davor, dass Parkreinigungen, Einrichtungen für Obdachlose und selbst der Weihnachtsmarkt in Rixdorf in Gefahr seien.

Auch dieses Schreckensszenario blieb am Ende aus. Der Haushalt, den die Koalition im Juli vorstellte, umfasst mit etwa 40 Milliarden Euro eine Rekordsumme. Vor allem Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) und Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) durften sich sogar über Mittelaufwüchse freuen. Möglich machten das Haushaltsrücklagen, die nun restlos aufgebraucht sind.

Mit einem von der Bundesregierung abgeguckten Buchhaltungstrick gibt es zudem mehr Mittel für den Klimaschutz: Das Klima-Sondervermögen des Senats erlaubt, am Haushalt vorbei zehn Milliarden Euro zusätzlich zu investieren. Unklar bleibt aber, wofür eigentlich. Maßnahmen wie die Elektrifizierung der Fahrzeugflotte des Senats oder Hitzeschutz in öffentlichen Gebäuden waren bereits von der Vorgängerregierung geplant worden. Unklar bleibt auch weiterhin, ob das Konstrukt des Sondervermögens überhaupt verfassungsgemäß ist.

Unter Haushaltspolitikern und Ökonomen wird derweil gemunkelt, dass sich Schwarz-Rot mit dem Rekordhaushalt selbst ein Bein stellen könnte. Denn ein solch hohes Haushaltsvolumen wird beim nächsten Doppelhaushalt 2026/2027 nicht erneut erreicht werden können, sollten die Steuereinnahmen nicht über den Erwartungen liegen. Schwarz-Rot schiebt die Kürzungen also auf und könnte der Opposition damit eine Steilvorlage für den Wahlkampf zur Abgeordnetenhauswahl 2026 liefern.

Mit dem Haushalt konnten Wegner und Evers größeren Koalitionskrach zunächst einmal verhindern. Generell kommen CDU und SPD oberflächlich bislang ohne größere Kontroversen aus. »Wir verzichten auf öffentliche Streitrituale. Das haben die Menschen satt«, sagte Saleh gegenüber dem »Tagesspiegel«. Vom Koalitionsvertrag abweichende Forderungen, mit denen sich vor allem Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) hervorhebt, weist der Regierende Wegner mit salomonischer Gehässigkeit ab: »Das ist eine interessante Auffassung, aber trotzdem gilt der Koalitionsvertrag«, sagte er etwa im Mai zu Kiziltepes Vorschlag, in der Verwaltung eine Vier-Tage-Woche auszuprobieren.

Ob das so bleiben wird, könnte sich im Herbst entscheiden. Die Schwerpunkte, die die Koalitionspartner nach der Sommerpause setzen wollen, unterscheiden sich erheblich. Nachdem sich das Gewaltproblem in Freibädern wetterbedingt selbst gelöst hat, hat sich die CDU inzwischen auf den Görlitzer Park in Kreuzberg eingeschossen. Durch eine Anfrage des Linke-Abgeordneten Niklas Schenker war bekannt geworden, dass eine Gruppe im Park ein Paar überfallen und die Frau vergewaltigt haben soll.

Dass es sich nach »taz«-Recherchen um die einzige Vergewaltigung in dem Park seit Jahresbeginn handelt, hielt die Christdemokraten, denen der Park schon unter Ex-Innensenator Frank Henkel ein Dorn im Auge war, nicht auf. Regierender Wegner fordert inzwischen einen »Görli-Kongress« mit Polizeivertretern. Noch weiter ging der CDU-Innenpolitiker Burkhard Dregger, der den Park künftig nachts einzäunen und ihn per Video überwachen will. Die SPD, die mit Iris Spranger die Innensenatorin stellt, hielt sich dagegen zunächst zurück, bevor Fraktionschef Raed Saleh seine Unterstützung für die Einzäunung erklärte.

Für die CDU dürfte es nicht bei einem Zaun bleiben: Fraktionschef Dirk Stettner kündigte an, nach der Sommerpause vermehrt Gesetzesinitiativen ins Parlament einbringen zu wollen. Teil dieses »Aufbruch Berlins« soll etwa eine Reform des Polizeigesetzes sein, die Bodycams einführen und den finalen Rettungsschuss regeln soll. »Da werden wir liefern«, sagte Stettner.

SPD-Fraktionschef Raed Saleh scheint andere Wünsche zu haben. »Sofort nach der Sommerpause werden wir das Wahlalter 16 und das Vergesellschaftungsrahmengesetz vorantreiben«, sagte er gegenüber der Deutschen Presseagentur. Beim Koalitionspartner werden diese Vorschläge wohl auf weniger Begeisterung treffen.

Mit der Prioritätensetzung wird auch Kai Wegner Farbe bekennen müssen. Der Regierende versuchte in den vergangenen drei Monaten, sich ein liberaleres Image zu verpassen. Beim Christopher Street Day forderte er von der Bühne aus, Schutz vor Diskriminierung wegen der sexuellen Identität ins Grundgesetz aufzunehmen. Von den Überlegungen von CDU-Bundeschef Friedrich Merz, mit der AfD in den Kommunen zusammenzuarbeiten, distanzierte er sich nachdrücklich. »Die Brandmauer bröckelt nicht – Punkt«, bekräftigte er gegenüber den »RND«-Zeitungen am Donnerstag erneut seine Position. »In Berlin wird es niemals eine Zusammenarbeit mit der AfD geben.«

Zweifel an der Glaubwürdigkeit gibt es durchaus: Nachdem Wegner im April im Abgeordnetenhaus in zwei Wahlgängen zunächst nicht gewählt worden war, kam er im dritten Wahlgang gerade so auf die erforderliche Stimmenzahl. Die AfD-Fraktion gab kurz darauf an, für Wegner gestimmt zu haben. Er nahm die Wahl trotzdem an.

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