Frankreich: Briefträger gegen Hitzetote

Frankreich reagierte mit Aktionsplänen auf die Rekordhitze vor 20 Jahren

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.

Dass sommerliche Hitzewellen wie in diesem Jahr in Südeuropa die Sterberate ansteigen lassen, hat man lange als natürlich und unabänderlich angesehen. Doch schon vor 20 Jahren standen viele Franzosen unter Schock, als im ungewöhnlich heißen Sommer 2003 allein der August mit seinen mehrfachen tagelangen Hitzewellen rund 15 000 zusätzliche Tote forderte. Von denen entfiel ein Drittel auf die Pariser Region und die Hälfte war im Rentenalter.

Dass die durch den Klimawandel immer häufiger auftretenden sommerlichen Hitzewellen die Sterblichkeit in die Höhe treiben, liegt auf der Hand. Doch über die Ausmaße gab es trotz des damaligen Rekordsommers in Frankreich bisher selbst unter Fachleuten nur Spekulationen. Nun haben das statistische Amt und die staatliche Gesundheitsbehörde dazu erstmals eine Untersuchung angestellt. Das Ergebnis wurde im Juli der Öffentlichkeit vorgelegt. Danach sind zwischen 2014 und 2022 im Sommer, also zwischen dem 1. Juni und dem 15. September, rund 33 000 Menschen mehr gestorben als in den zehn vorangegangenen Jahren. Analog zur Anzahl der Hitzewellentage in den einzelnen Jahren waren es zwischen 1000 und 7000 Todesfälle mehr als üblich. So wurden 2020 etwa 2000 Todesopfer mehr gezählt, 2018 waren es rund 4000, während das Jahr 2022 mit mehr als 7000 Opfern einen neuen Höchststand erreichte.

Eine Hitzewelle liegt vor, wenn an mindestens drei Tagen nacheinander die Tages- und die Nachttemperatur nicht unter einen bestimmten Wert absinkt, der je nach der geografischen Zone gestaffelt ist. Der staatlichen Wetterbehörde Météo France zufolge sind das im Norden 31°C am Tag und 18°C in der Nacht, in Südfrankreich dagegen 36°C am Tag und 22°C in der Nacht. Dabei handelt es sich um Durchschnittswerte, während die Spitzentemperaturen kurzzeitig oder auch über einige Tage mehr als 35°C und manchmal sogar bis zu 40°C erreichen können. Die Zahl der Opfer richtet sich aber nicht nur nach der Temperatur, sondern kann sich noch verschärfen, beispielsweise bei Atemluftbelastung durch Feinstaub, durch Ozon oder durch den Rauch großflächiger Waldbrände, was dann eine deutlich erhöhte Sterblichkeit zur Folge hat.

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Unvergessen sind in Frankreich bis heute die Fernsehbilder von Patrick Pelloux, dem Präsidenten des Rettungsmedizinerverbandes, der in bewegenden Worten und Bildern im Sommer 2003 die katastrophale Lage in den völlig überforderten Notaufnahmestationen der Krankenhäuser schilderte. Dort waren die Korridore durch Tragen mit Hitzeopfern vollgestellt, und die viel zu wenigen Ärzte kamen mit der Versorgung der Notfälle nicht hinterher. Dagegen brachte der von Journalisten im Urlaub aufgespürte und zu den Gegenmaßnahmen der Regierung befragte Gesundheitsminister im Polohemd vor den Fernsehkameras nur leere Phrasen hervor.

Damit sich so etwas nicht wiederholt, wurden in den folgenden Jahren diverse Maßnahmenpläne aufgestellt. Beispielweise wurde Météo France verpflichtet, rechtzeitig über die Medien vor bevorstehenden Hitzewellen zu warnen. Die Sozialdienste der Städte und Gemeinden können auf Listen zurückgreifen, auf denen besonders gefährdete alte Menschen verzeichnet sind. Die werden regelmäßig besucht oder angerufen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und Hilfe anzubieten. Alle Alters- und Pflegeheime verfügen inzwischen über mindestens einen großen Raum mit Klimaanlage, wo sich die Insassen den überwiegenden Teil des Tages aufhalten und wo auch Senioren aus der Umgebung willkommen sind.

An die jüngeren Franzosen, die meist überzeugt sind, dass sie hohe Temperaturen problemlos verkraften, richten sich Tipps beispielsweise für Jogging oder andere Sportarten, die möglichst auf die etwas frischeren Morgenstunden verlegt werden sollten. Zu den Vorkehrungen gehört zudem die staatliche Förderung für Bauarbeiten an schlecht isolierten Wohnungen, die dadurch sowohl gegen Kälte als auch gegen Hitze resistenter gemacht werden. Die zahlreichen, aber bisher nicht miteinander vernetzten Maßnahmen hat das Gesundheitsministerium in diesem Jahr zu einem nationalen »Hitzewellen-Plan« zusammengefasst und ausgebaut. Er wurde im vergangenen Juni der Öffentlichkeit vorgelegt.

Dieser Plan gliedert sich in 15 Schwerpunktmaßnahmen, die erstmals in diesem Sommer landesweit zum Einsatz kommen. Die dafür benötigten zwei Milliarden Euro pro Jahr werden aus dem »Klimawandel-Fonds« bereitgestellt. Dazu gehört die besondere Sorge um die Alten. Dafür werden auch die Briefträger der Post und junge Angehörige der Hilfsdienste herangezogen. Die Temperatur in den Schulen wird laufend kontrolliert und, wenn Schwellenwerte überschritten werden, fällt für die meisten Schüler der Unterricht aus, während für die Abiturprüfungen kurzfristig kühlere Räume angemietet werden können. Das Informationsnetz zur Warnung vor Hitzewellen wird um die Möglichkeit erweitert, dass die Bürger ihre Handynummer registrieren lassen, um per SMS Warnmeldungen zu empfangen, aber auch Tipps, wie man sich bei Hitze verhalten soll.

Konkrete Hinweise werden zudem für Gewerbebetriebe und Industrieunternehmen herausgegeben, wie sie die Arbeitsbedingungen optimieren können. Spezielle Ratschläge – etwa für die Vorverlegung der Arbeitszeit – gibt es für Bauunternehmen, da deren Mitarbeiter im Freien arbeiten und so der Hitze am stärksten ausgesetzt sind. Schließlich bietet die staatliche Agentur für den ökologischen Wandel Städten und Gemeinden kostenlos Konzepte für das Anlegen von schattigen, begrünten und mit Springbrunnen versehenen »Frische-Inseln« an.

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