Ukraine: Jagd auf Abweichler

Wer in der Ukraine eine andere Sicht zum Krieg als die vom Staat vorgegebene hat, kann vor Gericht landen

  • Bernhard Clasen
  • Lesedauer: 4 Min.
Wer in der Ukraine eine andere Sicht zum Krieg als die vom Staat vorgegebene hat, kann vor Gericht landen.
Wer in der Ukraine eine andere Sicht zum Krieg als die vom Staat vorgegebene hat, kann vor Gericht landen.

Juri Scheljaschenko, Sekretär der Ukrainischen Bewegung der Pazifisten, drohen mehrere Jahre Haft. Am Donnerstag hatten Beamte des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU die Wohnung des Pazifisten in Kiew aufgesucht, eine Hausdurchsuchung durchgeführt und dabei einen Computer und ein Mobiltelefon beschlagnahmt. Dies berichtete Scheljaschenko »nd« am Telefon. 

Der Geheimdienst, so Scheljaschenko, werfe ihm vor, die russische Aggression zu rechtfertigen. »Das Gegenteil ist der Fall«, so der Pazifist. Er habe »den verbrecherischen putinschen Militarismus und die brutale Aggression gegen die Ukraine« verurteilt, spreche sich für gewaltfreien Widerstand gegen die Besatzung aus. Die Einleitung eines Verfahrens gegen ihn, so Scheljaschenko, sei rechtswidrig, politisch motiviert, und als Repression gegen die Friedensbewegung zu verstehen. sei eine Repression der Friedensbewegung. 

Gesetz verbietet Kritik am offiziellen Narrativ

Scheljaschenkos Organisation arbeitet eng mit dem in Berlin ansässigen International Peace Bureau zusammen, dem 1910 der Friedensnobelpreis verliehen worden war. Scheljaschenko ist Mitglied des Vorstandes. In einer öffentlichen Erklärung forderte Scheljaschenko eine sofortige Einstellung der Ermittlungen gegen ihn und verlangte gleichzeitig Einsicht in die Unterlagen des Falls. 

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Grundlage der Ermittlungen gegen Scheljaschenko ist der im März 2022 in Kraft getretene Strafrechtsparagraf 436-2. Dieser stuft eine Reihe von Handlungen als rechtswidrig ein, die die »bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine, die 2014 begann, rechtfertigen, als rechtmäßig anerkennen oder leugnen«. Auch den Krieg gegen die Ukraine als Bürgerkrieg zu bezeichnen ist strafbar.  

Ähnlich wie bei der Gesetzgebung zur »Diskreditierung der Armee« in Russland kann mit Paragraf 436-2 jeder und jede verurteilt werden, der sich kritisch äußert. Dafür reicht ein Like unter Posts oder das Teilen von Beiträgen aus, wie aktuelle Fälle aus dem ganzen Land zeigen. Bei einer Verurteilung drohen bis zu drei Jahre Haft und in besonders schweren auch die Konfiszierung des Eigentums.

Ermittlungen auch gegen ehemalige Politiker

Viele Freunde in seiner ukrainischen Heimat hat der Pazifist Scheljaschenko nicht. Auf seiner Facebook-Seite finden sich vor allem ablehnende Kommentare. »Vom Opfer zu verlangen, die Waffen niederzulegen, ist ekelhaft«, schreibt ein Leser. Und ein anderer zitiert den Direktor des russischen orthodoxen Radios Jewgenij Nikiforow, »Radonesch«, der das Ermorden und Verbrennen von Ukrainern für eine gute Sache hält. »Und wenn man die Waffen niederlegt, wird genau das passieren«, schlussfolgert Facebook-Nutzer Alexander Shvedov. 

Scheljaschenko ist nicht der Einzige, gegen den der ukrainische Inlandsgeheimdienst wegen abweichender Positionen zum Krieg ermittelt. Am 25. Juli leitete der SBU Ermittlungen gegen den früheren Oppositionsabgeordneten Jewhenij Murajew wegen Hochverrats ein. Auf dem Telegram-Kanal des SBU wird ihm vorgeworfen, »in subversive Aktivitäten gegen die Ukraine verwickelt zu sein«. Dabei soll er seinen Fernsehkanal, »Nasch-TV«, zur »massiven Verbreitung von Kreml-Narrativen im Informationsraum der Ukraine« missbraucht haben. Damit habe er die öffentliche Meinung in der Ukraine im Sinne Russlands manipulieren wollen.

Außerdem habe Murajew, so zitiert die »Ukrajinska Prawda« einen Staatsanwalt, russische Narrative über einen »Kulturkrieg und die Verfolgung von Andersdenkenden« in der Ukraine verbreitet, die die »Unabhängigkeit unseres Staates diskreditieren und auf eine Notwendigkeit der Erfüllung von Vereinbarungen mit der Russischen Föderation abzielen.« Bei einer Verurteilung, so der SBU auf seinem Telegram-Kanal, drohen ihm 15 Jahre Haft. Aktuell soll sich Murajew nicht in der Ukraine aufhalten, berichten ukrainische Medien. Es ist nicht das erste Mal, dass Murajew ins Visier der Behörden gerät. Einen Monat vor Beginn der russischen Invasion erklärte Großbritannien, dass der Kreml in Kiew eine Marionettenregierung mit Murajew an der Spitze installieren wolle.

Vorwurf: Hochverrat

Ähnlich wie Murajew geht es auch dem ehemaligen Oppositionsabgeordneten Vadim Rabinowitsch von der Oppositionsplattform Für das Leben. Ihm wird ebenfalls, so berichtet das Portal »Strana«, Hochverrat aufgrund öffentlich getätigter Äußerungen vorgeworfen. Rabinowitsch habe »anti-ukrainische Propagandainformationen unter der Bevölkerung und der politischen Führung der EU-Länder verbreitet«, wirft ihm das staatliche Ermittlungsbüro vor. Die Ukraine hat inzwischen ein Rechtshilfeersuchen an Israel gestellt, den dort lebenden Rabinowitsch an die Ukraine auszuliefern. Außerdem möchten die ukrainischen Behörden ihn international zur Fahndung ausschreiben. 

Das Vorgehen gegen Scheljaschenko, Murajew und Rabinowitsch ist auch eine Warnung an andere kritische Geister: Wer in der Frage von Krieg und Frieden nicht das von oben vorgegebene Narrativ vertritt, steht mit einem Bein im Gefängnis. 

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