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Im Land der kruden Ideen
Wissenschaft hat spätestens seit der Pandemie in einem Teil der Gesellschaft jede Achtung verloren, beobachtet Leo Fischer
Studieren – ein Luxushobby. In den Universitätsstädten explodieren Mieten und Lebenshaltungskosten. Nur mehr 15 Prozent aller Studierenden beziehen Bafög, Tendenz fallend. Die staatliche Förderbank KfW hat den Zinssatz für Studienkredite in kurzer Zeit verdoppelt. Im Oktober 2021 lag er bei 3,76 Prozent, im April 2023 steht er bei 7,82 Prozent. Der Anteil von Studierenden, die nicht selbst schon aus Akademiker*innen-Haushalten stammen, wird weiter sinken. Die ohnehin schon geringe Durchlässigkeit der deutschen Klassengesellschaft wird damit weiter abnehmen; die in den 70ern versprochene Demokratisierung der Bildung wird zurückgenommen.
In den Kommentaren zu entsprechenden Nachrichten höhnen Konservative: Es brauche eh weniger Akademiker*innen, sollen sie halt Facharbeiter*innen werden, bei der Familie wohnen und sich »eine ordentliche Arbeit« suchen. Es ist schon lustig, dieselben Leute vom Land der Ideen, von Bildung als einziger Ressource reden zu hören, gleichzeitig aber Ideen und Bildung in der Hand der oberen Stände zu zementieren. Gerade die klassischen berufsbildenden Studiengänge, Ärzt*innen, Apotheker*innen, Anwält*innen, die einmal der Unterschicht zu Aufstieg und Wohlstand verhalfen, werden unzugänglich. Oft sind es gerade diejenigen, die selbst in seligen Bafög-Zeiten durch ein Studium ein bürgerliches Leben aufbauen konnten, die jetzt die Leitern wegtreten, auf denen sie nach oben gekommen sind.
Mehr und mehr wird ein Studium zum Statussymbol und Indikator der Klassenzugehörigkeit. In einer bestimmten akademischen Schicht ist inzwischen fast egal, was studiert wird – ob Kunstgeschichte oder BWL, in irgendeiner Consultant-Firma wird man schon unterkommen. Oder im Betrieb von Familienfreund*innen. Das Studium selbst muss selbstverständlich noch geleistet werden, kann aber, entsprechendes Geld vorausgesetzt, durch Ghostwriter*innen für Semester- und Abschlussarbeiten zur Fingerübung vereinfacht werden.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegen gelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.
Gleichzeitig hat sich die gesellschaftliche Bedeutung von Wissenschaft grundlegend verändert. Das ideelle Primat von BWL und Wirtschaftsfächern hat das Gesicht aller anderen Wissenschaften entstellt. Sie werden zu Stichwortgeber*innen der Wirtschaft degradiert. In den neuen Hochschulräten müssen sie vor Siemens-Managern rechtfertigen, warum es noch Archäologie braucht. Dabei wird die Wirtschaftswissenschaft immer esoterischer, ist oft nur mehr ideologische Rechtfertigung des neoliberalen Projekts – und zeigte sich wiederholt unfähig, auf die großen Krisen des Wirtschaftslebens vorzubereiten oder sie gar vorherzusagen. Ihrem Führungsanspruch hat das keinen Abbruch getan: Bereitwillig ordnen sich die anderen Fächer dem Jargon der BWL unter.
Gleichzeitig steht Wissenschaft unter Beschuss. Der Durchbruch von Verschwörungstheorien weit in den Mainstream sorgt dafür, dass jedem Artikel von »Spektrum der Wissenschaft«, ob zu Schwarzen Löchern oder zu Nanotechnologie, höhnische Social-Media-Kommentare folgen: »Gibt’s auch eine Impfung dagegen?« – »Wir brauchen eine Schwarze-Loch-Steuer!« Wissenschaft hat in einem Teil der Gesellschaft jede Achtung verloren, gilt als Regierungspropaganda, während Heilsteine und Homöopathie florieren.
Das Land der kruden Ideen will anscheinend auf einen Zustand hinaus, in dem wir uns alle gegenseitig die Haare schneiden und das Dach decken – idealerweise zu den Hungerlöhnen, die in diesen Branchen gezahlt werden.
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