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Linke Krise und Neubeginn

Wenn die Linkspartei den Ring der Isolierung durchbrechen will, braucht sie einen neuen Aufbruch

  • Mario Candeias
  • Lesedauer: 8 Min.

These 1 Wir leben in keiner offenen gesellschaftlichen Situation mehr, die Entwicklungspfade sind umkämpft, viele mögliche Alternativen aber bereits verunmöglicht, Wege sind verschlossen. Die gesellschaftliche Linke wird für mindestens ein Jahrzehnt eine defensive Position einnehmen. Grund dafür ist eine innergesellschaftliche Polarisierung zwischen den Trägern einer grün-liberalen Modernisierung und den autoritären Verteidigern einer fossilistischen Lebensweise (bei gleichzeitiger Zersplitterung von Zusammenhängen und bizarrer Neuzusammensetzung).

Die Polarisierung lässt wenig Raum für Alternativen. Die als Zeitenwende deklarierte globale Aufrüstung verengt den Raum schon jetzt erheblich. Die Krise der parteipolitischen Linken kann in Deutschland, wie schon in Italien zuvor, zu ihrer praktischen Vernichtung führen. Dies gilt es mit möglichst vielen Kräften zu verhindern (notfalls auch durch klare Profilbildung, die Trennungen in Kauf nimmt). Die gesellschaftliche Linke wird in jedem Fall konfrontiert sein mit drastisch schwindenden Ressourcen, weniger Kräften und der Gefahr der Zersplitterung.

These 2 Im Interregnum sind neue gesellschaftliche Konflikt- und Spaltungslinien entstanden, die quer durch alle Parteien gehen und seit 2011 zu einer permanenten Umordnung des Parteiensystems geführt haben. Zentrale Entwicklungen waren die Finanz- und dann die Schuldenkrise, die Bewegung der Geflüchteten 2015, die Pandemie, der Kulturkampf um die liberale gesellschaftliche Modernisierung mit Blick auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Repräsentation sowie das Aufbrechen damit verbundener Macht- und Gewaltverhältnisse, der Druck zur ökologischen Modernisierung – auch die mit multikultureller, geschlechtergerechter und ökologischer Modernisierung empfundene Entwertung traditioneller Lebensweisen und Identitäten. Und zuletzt natürlich die Zeitenwende mit dem Krieg in der Ukraine.

Die Konfliktlinien gehen quer durch die Gesellschaft und natürlich auch durch Die Linke. Seit 2015 und dem Erstarken der radikalen Rechten ist es der Linken an keiner dieser Konfliktlinien gelungen jeweils einen Pol in der Auseinandersetzung zu besetzen, zum einen wegen der Polarisierung durch rechte Kräfte, zum anderen, weil die Position der Partei nach außen von innen regelmäßig konterkariert wurde. In jedem Fall erweist sich der Versuch einer rein sozial-politischen Vermittlung der Widersprüche als verkürzt.

Dr. Mario Candeias
Mario Candeias

Politik - Theorie - Sozialismus. Der Kongress zu...

Dr. Mario Candeias, Jahrgang 1969, ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der hier veröffentlichte Text ist eine gekürzte Passage aus seinem Thesenpapier »Wir leben in keiner offenen Situation mehr. Thesen zum Ende des Interregnums und warum es gerade jetzt einen Neustart der Linken braucht«, vollständig zu finden auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Dieses Thesenpapier wurde kürzlich vom Linke-Netzwerk »Was tun?« als Beweis dafür genommen, dass die Linke-Führung einen »Putsch von oben mit aktiver Spaltungsabsicht« führe und eine »Trennung vom bisherigen Programm und jenen Mitgliedern« anstrebe, »die den Charakter der Linken als sozialistische Kraft erhalten wollen«. Die Veröffentlichung an dieser Stelle könnte dazu beitragen, eine sachliche Auseinandersetzung zu ermöglichen.

Ursächlich für die Krise der Partei war auch, dass politische Konfliktlinien und Widersprüche sich mit Fragen innerparteilicher Macht und des Kampfes um Ämter und Positionen verwickelten. Es geht um eine Neuordnung des Parteiensystems, sowohl zwischen den Parteien wie auch in ihrem Inneren. Besonders zugespitzt trifft es jene, bei denen der reale Wille zur Macht angesichts von Wahlergebnissen und Umfragen nicht mehr als Kitt zwischen den Strömungen und Flügeln wirkt. Dann schlägt die mediale Dynamik zu, die eben solche Differenzen zur mächtigen Gegensätzen werden lässt, in denen einzelne sich gegen die Partei profilieren und die Zentrifugalkräfte die Partei auseinandertreiben.

Der anti-neoliberale Konsens, der Die Linke lange geeint hat, zerfasert von den Rändern in Richtung eines sozial- oder linkskonservativen Projekts auf der einen Seite und in ein (transatlantisch) sozialliberales Projekt auf der anderen – die tragende Mitte dazwischen wird zerrieben. Die damit einhergehende Kultur der permanenten Kritik, des Schlechtredens aus der Partei selbst heraus, wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: Sympathisanten werden verunsichert und abgestoßen, Mitglieder demotiviert und frustriert (seit der Bundestagswahl sind rund 8000 Mitglieder aus der Partei ausgetreten). Dies arbeitet den Gegnern einer in den Parlamenten verankerten linken und sozialistischen Partei zu. Gegenwärtig gibt es einige, die den Moment gekommen sehen, Die Linke endgültig zu zerstören.

Lesen Sie auch: Michael Brie und Ines Schwerdtner antworten auf die Thesen zu einem Neustart der Linken von Mario Candeias.

These 3 In welchen Strukturen organisieren wir uns, wie können effektive Zentren regionaler Stärke, Inseln des Überlebens und der Sorge umeinander konstruiert werden, die Raum schaffen für eine demokratische und solidarische Lebensweise in sozialistischer Perspektive? Es braucht Organisationen, in denen es möglich ist, Veränderung selbst in die Hand zu nehmen, oft im Kleinen, aber mit Blick auf das Ganze. Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein. Im besten Falle gesellen sich dazu Enklaven eines rebellischen Regierens in Städten und Räumen, in denen es der Linken gelingt, relative Mehrheiten zu organisieren und gesellschaftliche Bewegungen, Organisierung und institutionelle Politik in ein produktives Verhältnis zu bringen.

Dazu gehört, eine Perspektive offen zu halten, die an einem Ende des Kapitalismus arbeitet, an einer solidarischen Gesellschaft. Dazu gehören ganz selbstverständliche Dinge wie eine kostenfreie Gesundheitsversorgung und Bildung sowie bezahlbares Wohnen für alle; entgeltfreie öffentlichen Dienstleistungen von Bibliotheken bis zum öffentlichen Personennahverkehr; demokratische Mitsprache, die etwas bewegt; selbstbestimmte Arbeit und Autonomie, der ökologische Umbau der Städte, des Verkehrs, der Energieversorgung und Landwirtschaft; viel mehr Zeit füreinander und zum Leben.

These 4 Linke Defensive bedeutet nicht, dass nicht fortwährend gesellschaftliche Auseinandersetzungen stattfänden. Gesellschaftliche Widersprüche werden nicht stillgestellt. Das insgesamt höhere Niveau von Krisen und Katastrophen der kommenden Periode bildet vielmehr die Grundlage dafür, dass aus kleinen generischen Krisen schnell größere werden können, Kämpfe sich verdichten. So erleben wir trotz einer strukturellen Schwäche und schwindender Organisationsmacht von Gewerkschaften (und Bewegungen) derzeit das Aufkeimen einer neuen Streikbewegung von Frankreich und Spanien über Großbritannien bis zur Bundesrepublik. Vor allem an den Schnittstellen von sozialer, ökologischer und Friedensfrage können sich gesellschaftliche Mobilisierungen in Zukunft immer wieder verdichten. Zentral wäre dabei, nicht passiv auf solche zu Momente zu hoffen, sondern selbst mit Partnern herausgehobene gesellschaftlich produktive Konflikte mit klarem Gegnerbezug zu produzieren.

These 5 Eine sich anbahnende neue Hegemonie schafft durchaus neue Bedingungen für etwas Neues von links. Diesmal wächst der Druck zur Konvergenz links-sozial-ökologischer, links-gewerkschaftlicher, sozialistischer, feministischer und radikaler Kräfte, die unter der neuen Hegemonie keine Repräsentanz oder ausreichend Bündnispartner*innen mehr finden, um wirksam zu sein.

These 6 Da gibt es aber leider keinen Automatismus. Sofern eine mediale Diskursdynamik eingesetzt hat, die in einer Abwärtsspirale mündet und aus dem inneren der Organisation selbst weiterbefördert wird, gibt es eigentlich nur zwei Wege aus der Krise: eine Art disruptive Neugründung einer bestehenden Organisation (wie etwa Labour unter Corbyn mit Momentum) oder die Gründung einer neuen Organisation (wie Podemos in Spanien). Über den Umweg von Unidas Podemos (aktuell Sumar), also sozusagen der Kombination beider Wege, gelang es in Spanien, die Vereinigte Linke – Izquierda Unida – vorübergehend zu retten. Bestehende Organisationen sollten nicht leichtfertig auf Spiel gesetzt werden – was wiederum kein Argument für eine ausbleibende Erneuerung einer bestehenden Organisation sein sollte.

Es braucht eine programmatische Erneuerung und ein Signal des Aufbruchs auf den Feldern Frieden, sozial-ökologischer Systemwechsel und Infrastruktur-Sozialismus, Arbeit und Ökonomie der Zukunft. Dabei muss auf das im engeren Sinne linkskonservative Spektrum um Sahra Wagenknecht keine Rücksicht mehr genommen werden – von ihr selbst erklärt, haben wir bereits eine Situation Post-Wagenknecht. Trotz der schlechten Umfragen existiert immer noch ein Wählerpotenzial von ca. 16 Prozent für eine sozial-ökologisch ausgerichtete, kapitalismuskritische und friedenspolitisch neu profilierte linke Partei mit sozialistischer Perspektive.

Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Ihr höchstes Potenzial hat Die Linke weiter bei Haushalten mit einem niedrigen Einkommen, von denen – anders als häufig suggeriert – die dezidiert sozial-ökologischen Forderungen der Partei am stärksten befürwortet werden. Bekanntermaßen wählen diese Wählergruppen aber besonders selten. Hier braucht es also eine überzeugende Nicht-Wählerstrategie.

Das zweitgrößte Wählerreservoir liegt bei SPD und Grünen. Es sind jene, die von SPD und Grünen enttäuscht werden, vor allem links-gewerkschaftliche und linksökologische Wählergruppen. Dazu kommen jene linken sozial-ökologischen, antifaschistischen, antirassistischen oder feministischen Klassenmilieus, die derzeit nicht (mehr) Die Linke wählen, eher zu Bewegungen neigen oder Kleinparteien wählen.

Ob ein linkskonservatives Projekt gegründet wird, hat Die Linke nicht in der Hand. Wenn es kommt, verliert die Partei sicherlich ein erhebliches Potenzial in diese Richtung. In jedem Fall gilt es möglichst viele Mitglieder und Wähler*innen zu halten. Aus dem links-sozialdemokratischen sowie traditionell gewerkschaftlichen Spektrum wollen sich viele für das Überleben der Linken einsetzen. Die Linke muss ihre Basis erweitern, neue Mitglieder gewinnen und mit ihnen gemeinsam um Wähler*innenstimmen kämpfen. Nur in klarer inhaltlicher wie symbolischer Abgrenzung vom Linkskonservatismus und durch kluge Neuorientierung und Bündnispolitik kann sie wieder eine attraktive Repräsentantin und Partnerin einer breiteren gesellschaftlichen Linken werden. Das gelingt nur durch klare Profilierung als moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei bzw. als klassenorientierte sozialökologische und feministische Partei der Gleichheit und Freiheit und des Friedens mit sozialistischer Perspektive.

These 7 Zu bedenken wären bereits jetzt Wege zu einer disruptiven Neugründung der Linken aus dem strategischen Zentrum der Partei heraus. Das wäre der umgekehrte Weg von #aufstehen, vergleichbar eher mit Momentum in Großbritannien: Es wird eine Struktur für Aktive, Gewerkschafter*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen geschaffen, die nicht Teil der Partei sein wollen (oder können) und sich dennoch in eine verbindliche Unterstützungsstruktur einbringen wollen. Denn bereits jetzt zeichnet sich ein Feld links von SPD und Grünen ab, welches derzeit keine Repräsentation findet, teilweise auch keine Repräsentation in der typischen Parteiform mehr sucht, deren Wert aber sehr wohl erkennen kann. Dies reicht von #armutsbetroffen und dem Paritäter über Fridays for Future, BUND und linke Gewerkschafter*innen und den »systemrelevanten« Arbeiter*innen bis hin zu Antifa und Migrantifa und nicht zuletzt kritischen Intellektuellen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Disruptiv meint nicht »zerstörerisch«, sondern einen Aufbruch im Sinne eines erkennbaren und wirkungsvollen Bruchs mit dem »Weiter-so«. Der Beginn einer neuen gesellschaftlichen Entwicklungsperiode macht auch die Neugründung der Partei zur Notwendigkeit, sofern sie überleben will. Ziemlich sicher wird die Partei Leute verlieren und andere eben nicht gewinnen, selbst wenn sie es gut macht. In diesem Widerspruch muss sich die Partei bewegen. An dem Schritt kommt sie nicht vorbei. Für Die Linke ist sonst die Chance verbaut den Ring der Isolierung zu durchbrechen.

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