Eine kurze Geschichte des Abolitionismus

Die Bewegung will nicht nur Polizei und Gefängnisse endgültig abschaffen

  • Shaïn Morisse, Vanessa E. Thompson
  • Lesedauer: 6 Min.
Proteste im April 2021 gegen den tödlichen Polizeischuss auf den 20-jährigen Daunte Wright in Minneapolis.
Proteste im April 2021 gegen den tödlichen Polizeischuss auf den 20-jährigen Daunte Wright in Minneapolis.

Seit den globalen Protesten nach der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 im US-Bundesstaat Minneapolis durch den Polizeibeamten Derek Chauvin hat Abolitionismus als theoretische Perspektive und soziale Bewegung neue politische Aufmerksamkeit erhalten. Die Forderung nach der Abschaffung der Polizei fand Anklang auf vielen der Massenproteste, die von den USA bis nach Europa, Mittel- und Südamerika, Afrika und Asien reichten. Nach den anti-rassistischen Protesten, die historisch in ihrer Größe bisher einzigartig sind, haben sich viele weitere abolitionistische Gruppen und Initiativen gegründet, auch in Deutschland. Dabei geht es nicht bloß um die Polizei oder um Gefängnisse.

Wörtlich bedeutet Abolitionismus Abschaffung und steht damit im Gegensatz zu einer Reform. Historisch geht die Bewegung auf Kämpfe gegen das kapitalistische Plantagensystem zurück. Dabei ist die Frage nach den Akteuren in progressiven Kreisen nicht unumstritten.

Liberale Ansätze oder die religiösen Quäker gründeten die Forderung nach Abschaffung der Sklaverei auf religiösen oder aufklärerischen Prinzipien und liberalen Menschen- und Bürgerrechtskonzeptionen und setzten sich damit lediglich für die Überführung der Sklaven in die »freie« Lohnarbeit ein.

Radikale Abolitionist*innen verweisen indes auf die Aufstände und Revolutionen versklavter Massen als wesentliches Moment der Klassenkämpfe. Der karibische Historiker C.L.R. James analysiert demnach die erste erfolgreiche Sklavenrebellion in Saint-Domingue, dem späteren Haiti, als Revolution der überausgebeuteten, also zu einem höheren Grad der Ausbeutung verdammten Arbeiter*innen. Einige Jahre zuvor argumentierte der US-amerikanische Soziologe und Panafrikanist W.E.B Du Bois in seinem bahnbrechenden Werk »Black Reconstruction in America« (1935) über den amerikanischen Bürgerkrieg, dass der Streik von bis zu vier Millionen Sklav*innen maßgeblich zur Abschaffung der Sklaverei in den USA beigetragen hat.

In diesen Ansätzen sind Fragen um direkte Gewalt, Enteignung und Formen der »unfreien « Arbeit als Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zentral. Dabei geht es radikalen Abolitionist*innen nicht um eine Reform des kapitalistischen Gesellschaftssystems, sondern um dessen Abschaffung. Ein zentrales Merkmal im Abolitionismus ist jedoch nicht nur die Negation, sondern vor allem das Erproben radikaler Alternativen. So wurden von den Quilombo-Gesellschaften in Brasilien, hauptsächlich aufgebaut von ehemals versklavten und kolonisierten Menschen, den Palenque de San Basilio im heutigen Kolumbien oder den Maroon-Gemeinschaften in der Karibik, sowie in anti-kolonialen Zusammenhängen neue Formen des Zusammenlebens entwickelt.

Auch europäische Arbeiter*innen solidarisierten sich mit den Kämpfen der Versklavten mit einem Verständnis, dass auch sie nicht frei sein können, wenn Arbeiter*innen in der Peripherie in Ketten liegen. Dies schlug sich im Streik der Textilarbeiter im Jahre 1862 in Lancashire in Solidarität mit den abolitionistischen Kämpfen in den USA nieder.

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Die formale Abschaffung der Sklaverei in verschiedenen Ländern im 19. Jahrhundert bedeutete nicht das Ende des Systems der oft rassistisch geformten und besonders gewaltvollen Formen der Ausbeutung. In den USA beispielsweise wurde die Unterdrückung, die sich gegen die schwarze sowie indigene Bevölkerung richtete, in andere politische, wirtschaftliche und rechtliche Formen überführt: zunächst durch die Pachtwirtschaft und Regime der »Rassentrennung« (1871 – 1964) und dann durch die Massenkriminalisierung und Inhaftierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit den 1970er Jahren wurden sowohl in den schwarzen Befreiungskämpfen als auch in Kreisen wie den Quäkern die Abschaffung von Gefängnissen als Teil der Abschaffung der Sklaverei gesehen.

Parallel dazu entwickelte sich in Europa der Abolitionismus von Gefängnissen und Strafsystemen, allerdings aus einer etwas anderen Perspektive. Die Bewegung entstand vor dem Hintergrund allgemeiner Gefängniskämpfe in verschiedenen Ländern. Dies wurde möglich durch eine neuartige Verbindung zwischen Bewegungen innerhalb und Gruppen für radikale Strafrechtsreformen außerhalb der Gefängnisse. Letztere, die sich aus Akademiker*innen, Aktivist*innen, (ehemaligen) Häftlingen, Studierenden, Jurist*innen, Sozial- und Strafvollzugsarbeiter*innen zusammensetzen, versuchten, die politische Organisation der Häftlinge zu unterstützen und die Gefängnisrealität sowie den ungleichen und zerstörerischen Charakter des Strafsystems nach außen sichtbar zu machen. Ziel war es, eine autonome Mobilisierung unterdrückter Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen, eines Lumpenproletariats, das von den sich entwickelnden Sozialstaaten und der traditionellen Linken vergessen wurde. Gleichzeitig förderte die Bewegung die Verbreitung alternativer und nicht-disziplinierender Formen der sozialen Unterstützung, die später zu Konzepten wie Mediation, restaurative und transformative Gerechtigkeit ausgearbeitet wurden.

Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die abolitionistische Bewegung neu definiert. Sie nahm zunehmend alle Formen des Einsperrens oder der unterdrückerischen sozialen Kontrolle (Polizei, Grenzregime, Überwachung, Psychiatrien, repressive und disziplinierende Sozialpolitik usw.) ins Visier. Auch feministische Stränge, die davon ausgehen, dass das Strafsystem nicht in der Lage ist, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt strukturell anzugehen, spielen in der Bewegung eine größere Rolle. Dies ist vor dem Hintergrund des neoliberalen Strukturwandels, der zunehmenden Bestrafung von Armut, dem Ausbau von Kontroll- und Strafsystemen sowie tödlichen Migrationsregimen zur kapitalistischen Krisenregulation nicht überraschend. Gerade die zunehmende Produktion einer armutsgefährdeten »Überschussbevölkerung« (der jüngst verstorbene Abolitionist Mike Davis spricht in diesem Rahmen von der am schnellsten wachsenden sozialen Klasse) liegt im Fokus heutiger abolitionistischer Mobilisierung.

Gemeinsam bilden diese Entwicklungen eine breitere Anschlussbasis für eine radikale Politik der Ausgebeuteten und Entrechteten. Initiativen gegen Polizeigewalt und das Grenzregime, gegen Zwangsräumungen und für eine Stadt für alle, gegen die Ersatzfreiheitsstrafe und den Maßregelvollzug sowie disziplinierende Sozialbehörden erweitern damit die Kämpfe um die soziale Frage. Sie zeigen auf, dass systematische Gewalt sowie staatlich organisierte Vernachlässigung die Formen sind, durch welche die stets zunehmende »überflüssig« gemachte Bevölkerung, Wohnungslose und Entrechtete, Asylsuchende und Erwerbslose sowie Mehrfach-Unterdrückte in den innerstädtischen Armutsvierteln kontrolliert und diszipliniert werden.

Zugleich entwerfen und erproben sie Alternativen im Hier und Jetzt durch selbstorganisierte Solidaritätsprojekte im Bereich Wohnen und Gesundheit, Flucht und Migration, alternativen und gemeinschaftlichen Ökonomien. Hinzu kommen Praktiken der kollektiven Verantwortungsübernahme bei zwischenmenschlicher Gewalt, die in den meisten Fällen nicht von strukturellen Bedingungen loszulösen ist. Dabei sollen nicht der Staat und seine Funktionen entlastet werden, vielmehr geht es um mögliche alternative Formen des Zusammenlebens.

Der Kern der abolitionistischen Strategie besteht also darin, auf der Grundlage einer breiteren sozialen und revolutionären Kritik gleichzeitig eine neue Welt aufzubauen, die andere soziale Verhältnisse ermöglicht. Fernab der kapitalistischen Ausbeutung, systematischen Umweltzerstörung und den strukturellen Ungleichheiten, die zwischenmenschliche Konflikte schüren, wäre diese neue Welt auch nicht von der Unterdrückung einer großen Anzahl von Menschen durch Bestrafung, Gewalt und Kontrolle angetrieben.

Shaïn Morisse ist Doktorand in Politikwissenschaft (Université Paris-Saclay, CESDIP, Centre Marc Bloch Berlin). In seiner Arbeit erforscht er die Geschichte der Ideen und Mobilisierungen rund um den strafrechtlichen Abolitionismus in Europa (1960er – 2010er).

Vanessa E. Thompson lehrt Black Studies and der Queen’s University, Kanada. Sie beschäftigt sich mit kritischer Rassismusforschung, Kritik der Staatsgewalt sowie der internationalen Mobilisierung neuerer abolitionistischer Bewegungen.

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