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Wachstumschancengesetz: Rückkehr des sozialen Kahlschlags
Am Mittwoch soll das Kabinett das sogenannte Wachstumschancengesetz beschließen
»Probleme sind nur dornige Chancen«, lautet ein vielzitierter Ausspruch von Christian Lindner, lange bevor er Bundesfinanzminister der FDP wurde. An diesem Mittwoch soll die Bundesregierung den von seinem Ministerium verantworteten Entwurf des euphemistisch so genannten Wachstumschancengesetzes beschließen. Dessen vollständiger Name: Gesetz zur Stärkung von Wachstumschancen, Investitionen und Innovation sowie Steuervereinfachung und Steuerfairness. Und das ist so eine »dornige Chance« – beziehungsweise ein ernsthaftes Problem.
De facto ist das Wachstumschancengesetz ein ganzes Paket an Gesetzesänderungen, die vor allem Steuersenkungen und Investitionsprämien für Unternehmen bedeuten. Damit soll der derzeitigen Stagflation, also dem Stillstand des Wirtschaftswachstums bei gleichzeitiger Geldentwertung, begegnet werden. Zudem sollen Anreize für Unternehmen geschaffen werden, mehr in Energie- und Ressourceneffizienz zu investieren. »Mit dem Wachstumschancengesetz werden zielgerichtete Maßnahmen ergriffen, die die Liquiditätssituation der Unternehmen verbessern und Impulse setzen, damit Unternehmen dauerhaft mehr investieren und mit unternehmerischem Mut Innovationen wagen können«, heißt es auf der Website des Bundesfinanzministeriums. Dies sei »wichtig, um die Transformation unserer Wirtschaft zu begleiten sowie die Wettbewerbsfähigkeit, die Wachstumschancen und den Standort Deutschland zu stärken«.
Insgesamt soll das Gesetzespaket für Unternehmen Steuerersparnisse in Höhe von knapp 6,7 Milliarden Euro zur Folge haben, die dem Staat dann auf der Einnahmenseite fehlen. In seinem Gesetzentwurf geht das Bundesfinanzministerium davon aus, dass die Mindereinnahmen beim Bund 2,4 Milliarden Euro betragen, hinzu kommen 2,3 Milliarden Euro Mindereinnahmen bei den Ländern und 1,9 Milliarden Euro Mindereinnahmen bei den Kommunen. »Das Wachstumschancengesetz ist für soziale Einrichtungen und Vereine eine riesengroße Gefahr. Ihnen drohen in einer ohnehin schon prekären Situation weitere drastische Kürzungen in den Kommunen – in allen Bereichen«, sagt Joachim Rock, Experte für Sozialpolitik des Paritätischen Gesamtverbands, zu »nd«. Der Verband warnt davor, dass die Steuerausfälle noch weit höher liegen könnten, als vom Bundesfinanzministerium veranschlagt.
Bereits der kürzlich von der Bundesregierung beschlossene Entwurf des Bundeshaushalts 2024 würde für die Städte und Gemeinden erhebliche Einschnitte bedeuten, weil die Förderung ländlicher Räume stark gekürzt werden soll. Und bereits ohne Einbeziehung des Wachstumsschancengesetzes kalkuliert der Deutsche Städte- und Gemeindebund bei den kommunalen Finanzen für dieses Jahr mit einem Defizit in Höhe von 6,4 Milliarden Euro und 10 Milliarden Euro für das kommende Jahr. Man muss wohl davon ausgehen, dass sowohl soziale Programme als auch geplante Investitionen der Gemeinden der Politik der Bundesregierung zum Opfer fallen.
All diese Kürzungen stehen im krassen Gegensatz zum Koalitionsvertrag der Ampel. Genau wie die von der Bundesregierung geplanten Kürzungen, etwa in der politischen Bildung und bei der Digitalisierung. Von der »Zukunftskoalition« aus SPD, Grünen und FDP ist bereits nach weniger als zwei Jahren nichts weiter übrig als die befürchtete Wiederaufnahme der rot-grünen Kahlschlagpolitik von Anfang der Nullehrerjahre.
Um den »Standort Deutschland« zu fördern, geht die Bundesregierung mit dem Wachstumschancengesetz auch an die Grenze dessen, was nach EU-Beihilferecht an De-facto-Subventionen möglich ist. So sollen Investitionen in Höhe von 15 Prozent mit bis zu 30 Millionen Euro gefördert werden, wohlgemerkt unabhängig von den vom Unternehmen eingefahrenen Gewinnen. Da überrascht es nicht, dass die Lobbyverbände der Unternehmen jubilieren.
Wobei: Genug kann bekanntermaßen nie genügen. Und so kritisierte der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer, Peter Adrian, dass beim Wachstumschancengesetz »leider weniger als die versprochene Superabschreibung« herumkomme, die Lindner immer wieder angekündigt hatte. Deshalb sei das Wachstumschancengesetz nur ein »wichtiger erster Schritt«, so Adrian, »aber selbst bei kompletter Umsetzung reichen die Maßnahmen nicht aus, um die aktuellen und strukturellen Probleme der deutschen Wirtschaft hinreichend zu lösen«. Die deutschen Unternehmen bräuchten »aktuell nichts so sehr wie Entlastung – weniger Vorschriften und nicht immer mehr«, so Adrian weiter. »Die ebenfalls leider im Gesetzentwurf enthaltenen zusätzlichen Informationspflichten für Unternehmen sollten deshalb gestrichen werden.«
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