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Haushalt 2024: »Soziale Arbeit wird zusammengekürzt«
Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege kritisieren finanzielle Einschnitte im Asylbereich
Rechtsberatung, Therapie und Unterstützung: Die soziale Arbeit für geflüchtete Menschen in Deutschland ist von immensen Kürzungen bedroht. Unmittelbar durch die Streichung von Bundesmitteln im Haushalt 2024, mittelbar durch Steuereinbußen der Länder und Kommunen im Rahmen des sogenannten Wachstumschancengesetzes. Schon jetzt sprechen viele Gemeinden von ihren »Belastungsgrenzen« durch die notwendige Unterbringung von Geflüchteten. Es ist zu befürchten, dass die Anfeindungen von Schutzsuchenden sich im Zuge der finanziellen Engpässe im kommenden Jahr noch verstärken werden.
»Es ist paradox, in einer Zeit, in der die Zahl der Geflüchteten so hoch ist wie nie zuvor, fast alle Programme im Asylbereich massiv zu kürzen«, sagt Kerstin Becker, Expertin für Migration beim Paritätischen Gesamtverband, im Gespräch mit »nd«. Laut aktuellen Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) haben von Januar bis Juli 175 272 Menschen einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Das ist zwar weit weniger als im Jahr 2016 (damals waren es 722 370 Erstanträge), aktuell kommen aber rund eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine hinzu, die keinen Asylantrag stellen müssen. Außerdem ist die Schutzquote sehr hoch: 71 Prozent der Menschen, deren Asylgründe vom Bamf inhaltlich geprüft werden, erhalten Schutz in Deutschland.
Haushaltskürzungen sieht die Bundesregierung neben Bundesfreiwilligendiensten und Leistungen für Arbeitslose insbesondere im Asylbereich vor. Betroffen ist die Förderung der erst in diesem Jahr eingeführten unabhängigen Asylverfahrensberatung, die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte und die psychosozialen Zentren für Geflüchtete.
Der Haushalt für 2024 sieht für die unabhängige Asylverfahrensberatung (AVB) sowie die besondere Rechtsberatung für queere und sonstige vulnerable Schutzsuchende 20 Millionen Euro vor. Die Verbände der freien Wohlfahrtpflege sehen darin eine faktische Kürzung um 50 Prozent, da dies die gleiche Summe ist wie 2023, wo das Programm erst Mitte des Jahres gestartet sei. Ihnen sei eine stufenweise Anhebung der Mittel signalisiert worden. »In der Vergangenheit gab es auch in diesem Bereich einen Flickenteppich der Förderstrukturen. Mit der Ankündigung der Förderung durch den Bund haben die Länder eigene Programme größtenteils eingestellt. Wenn nun viel weniger Gelder fließen als angekündigt, stehen wir de facto mit weniger Angeboten da als vorher«, kritisiert Inga Matthes, Referentin für Flucht beim Deutschen Roten Kreuz (DRK), gegenüber »nd«. Sie sieht darin einen Widerspruch zum Koalitionsvertrag, der eine flächendeckende Struktur für die Asylverfahrensberatung vorsah. »Das ist mit 20 Millionen Euro nicht möglich«, so Matthes. Die Förderung für unabhängige Asylverfahrensberatung war auf Druck der Verbände erst in diesem Jahr eingeführt worden. Bisher war diese Beratung überwiegend vom Bamf selbst ausgeübt worden, also der Behörde, die später über die Asylanträge entscheidet.
Die Förderung für psychosoziale Zentren in Deutschland soll um 9,6 Millionen Euro gekürzt werden. Laut Versorgungsbericht des Dachverbands der Psychosozialen Zentren in Deutschland haben fast 90 Prozent aller geflüchteten Menschen potenziell traumatisierende Ereignisse wie Krieg, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung erlebt. Rund 30 Prozent sind von depressiven Erkrankungen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung betroffen. Schon jetzt versorgen die deutschlandweit 47 psychosozialen Zentren nur 4,1 Prozent der potenziell behandlungsbedürftigen Geflüchteten. »Oft dauert es mehrere Monate, bis wir Patient*innen bei uns aufnehmen können. Für schwer traumatisierte Menschen ist das ein unzumutbarer Zustand«, sagt Kirstin Reichert, Geschäftsführerin des Zentrum Überleben.
Bei der Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte sieht die Bundesregierung eine Kürzung um rund 30 Prozent vor. Mit dem Abbau von entsprechenden Beratungsstellen wird Neuzugewanderten in Deutschland die Teilhabe am Arbeitsmarkt, an Bildung und Gesellschaft massiv erschwert und der im Koalitionsvertrag angekündigte Paradigmenwechsel in der Einwanderungspolitik in Deutschland verfehlt, heißt es seitens der Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege. Sie fordern die Bundesregierung auf, die Kürzungen im sozialen Bereich zurückzunehmen. »Man kürzt soziale Arbeit zusammen und gefährdet den gesellschaftlichen Frieden vor Ort. Das ist brandgefährlich«, warnt Kerstin Becker im Gespräch mit »nd«.
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