Bergkarabach: Genozid im Kaukasus

Seit 250 Tagen hungert Aserbaidschan die Menschen im armenisch besiedelten Bergkarabach aus

  • Melanie M. Klimmer
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Machthaber von Aserbaidschan, Ilham Alijew, handelt mit genozidalen Absichten. Zu diesem Schluss kommt der frühere Erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IGStH), Luis Moreno Ocampo, in seinem am 9. August veröffentlichten Gutachten zur Situation in Bergkarabach. Alijew habe »den Latschin-Korridor wissentlich, willentlich und freiwillig blockiert, auch nachdem er durch die vorläufigen Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 22. Februar 2023 auf die Folgen seines Handelns hingewiesen worden war.« Es gebe zwar keine Krematorien und keine Angriffe mit Macheten, heißt es im Gutachten, aber »Hunger ist die unsichtbare Waffe des Völkermords«. Artikel II (c) der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« definiert Genozid auch als »vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe«, »die dazu geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen«.

Schon am 22. Februar hatte der IGH Aserbaidschan zur sofortigen Aufhebung der Blockade aufgefordert. Jedoch blieb nicht nur der bindende IGH-Beschluss in Baku ungehört. Auch eindringliche Appelle von Staatsoberhäuptern und internationalen Organisationen haben bislang nicht zur Aufhebung der seit über 250 Tagen völkerrechtswidrig durchgeführten Blockade des einzigen Landweges zwischen den Republiken Armenien und Arzach (bis 2017 Bergkarabach) geführt. Durch die Verschärfung der Blockade im Juni 2023 aber hat sich die Situation der 120 000 eingeschlossenen, ethnischen Arzach-Armenier dramatisch zugespitzt. Lebensnotwendige Güter wie Nahrungsmittel, Medikamente, medizinisches Equipment oder Treibstoff gelangen nicht mehr ins Land.

Einziger Zugang nach Bergkarabach gesperrt

Seit Ende des zweiten Bergkarabach-Krieges im November 2020 ist der Korridor der letzte Zugangsweg nach Arzach. Die Lage hatte sich zuletzt durch die Aussetzung der Erdgaslieferungen durch Baku von Armenien über das aserbaidschanisch kontrollierte Gebiet nach Arzach zugespitzt. Die Energieblockade trieb viele in den wirtschaftlichen Ruin. Noch dramatischer ist die gesundheitliche Situation. Mehr als 13 000 diabetes- und herzkranke Menschen haben keinen Zugang mehr zu Medikamenten, 30 000 Kindern droht der Hungertod.

»Neun von zehn Schwangere leiden an Anämie und Unterernährung«, sagt die Osteuropa-Expertin Dr. Tessa Hofmann aus Berlin. »Auch die Zahl der Fehlgeburten hat sich in den letzten drei Monaten drastisch erhöht.« Und der Gesundheitsminister von Arzach, Wardan Tadewosjan, beklagt am 10. August gegenüber der Nachrichtenagentur »Artsakhpress«, dass medizinische Hilfe oft nur noch aus der Ferne geleistet werden könne, weil aufgrund des Treibstoffmangels kaum noch Rettungswagen fahren. Vor wenigen Tagen forderte die Blockade ein erstes Todesopfer. In der Hauptstadt Stepanakert starb ein 40-jähriger Mann an den Folgen chronischer Unterernährung.

»Ohne umgehende internationale Hilfe kann man Arzach mit Fug und Recht als Konzentrationslager mit allen daraus resultierenden Folgen bezeichnen«, sagte Arzachs Präsident Arajik Harutjunjan Ende Juli in einem dringenden Appell an die internationale Staatengemeinschaft. Sanktionen drohen dem autoritären Alijew-Regime bislang jedoch nicht, da das Land als Energielieferant für die EU im Schatten des Ukraine-Krieges wichtiger geworden ist denn je. »Es wäre folgerichtig, wenn die EU-Mitgliedsstaaten über Aserbaidschan Sanktionen verhängen und der UN-Sicherheitsrat dem Vorschlag von Luis Moreno Ocampo nachkommen würde, den Internationalen Strafgerichtshof mit dem Fall Aserbaidschan-Arzach zu betrauen«, sagt Dr. Gerayer Koutcharian, Gründungsmitglied der Berliner Arbeitsgruppe »Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung« im »nd«-Gespräch.

Erinnerungen an Völkermord im Ersten Weltkrieg

Das aktuelle Vorgehen Aserbaidschans erinnert an die Vernichtung von 1,5 Millionen armenischen Christen im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges. Damals ließ Deutschland das mit ihm verbündete türkisch-nationalistische Regime gewähren, das neben Massakern auch Hunger systematisch als Waffe gegen die Armenier einsetzte. »Von der deutschen Bundesregierung erwarte ich deshalb, dass sie nicht wieder untätig zusieht, wenn Armenier vernichtet werden sollen«, fordert Koutcharian, der seit 1968 als politischer Flüchtling in Deutschland lebt. Die türkische Regierung leugnet den Genozid von damals. »Bis heute kein Erinnern, kein Mahnen, keine Übernahme von Verantwortung«, sagt die Armenien-Koordinatorin der Gesellschaft für bedrohte Völker, Tessa Hofmann. Ihr zufolge wäre das ein erster Schritt zu einer Friedenslösung im Südkaukasus.

Dass sich ein neuer Genozid an den Armeniern des Südkaukasus anbahne, darauf wiesen die International Association of Genocide Scholars und das Lemkin Institut for Genocide Prevention schon seit August 2022 eindringlich hin. Ein solcher Genozid sei in Aserbaidschans Schulen und Medien jahrzehntelang vorbereitet worden, sagt Hofmann. Andersdenkende würden politisch verfolgt und mit dem Tode bedroht, während Personen, die Armenier umbrächten, als Helden gefeiert würden.

»Seit Oktober 2021 werden immer wieder unbewaffnete armenische Bauern von aserbaidschanischen Scharfschützen bei der Feldarbeit erschossen«, sagt sie. Das seien Einschüchterungsversuche des Alijew-Regimes. »Da diese Tötungen teils in Gegenwart russischer Friedenssoldaten geschehen sind, kann das auch ein Hinweis darauf sein, dass die russischen Friedenstruppen die armenische Bevölkerung nicht beschützen können und offenkundig auch nicht schützen wollen«, meint die Osteuropa-Expertin weiter. Falls sich Russland aus dem trilateralen Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 zurückziehe, käme das einem Paradigmenwechsel in seiner Südkaukasuspolitik gleich, so Hofmann.

Russland kann nicht eingreifen

»Russland müsste mindestens seiner Selbstverpflichtung gemäß dem trilateralen Abkommen von 2020 gerecht werden und für freien Personen- und Warenverkehr im Latschin-Korridor sorgen«, fordert Koutcharian. Russland hatte sich zuletzt mit der Begründung zurückgezogen, dass Jerewan sich bei den Treffen unter EU-Schirmherrschaft im Oktober 2022 und Mai 2023 für die Anerkennung von Arzach als Teil Aserbaidschans ausgesprochen habe. Beobachter vermuten jedoch, dass die vermeintlich prowestliche Haltung des amtierenden Regierungschefs von Armenien, Nikol Paschinjan, zu Russlands Umlenken in seiner Südkaukasus-Politik geführt haben könnte. Damit würde die Hauptverantwortung an Armenien zurückfallen – ein Land, das gerade in seinen Grenzregionen seit 2016 immer wieder selbst Opfer von aserbaidschanischen Angriffen geworden ist.

»Indem Baku nun die Arzach-Armenier von allem Lebensnotwendigen abschneidet, soll die Unterwerfung der eingeschlossenen Arzach-Armenier unter das Alijew-Regime erzwungen werden, andernfalls drohen ihnen Vertreibung oder der Hungertod«, sagt Armenien-Kennerin Hofmann. Erdgas fließt, sobald die Menschen sich zu Aserbaidschan bekennen. Regierungsnahe, aserbaidschanische Medien bestätigen diese Strategie. Die Arzach-Armenier aber ringen seit dem Ende des Ersten Bergkarabach-Krieges 1994 weiter um die Anerkennung ihrer nationalen Selbstbestimmung. Artak Beglarjan, Ministerberater der Regierung in Stepanakert, sagt, der Entzug lebenswichtiger Güter werde weder den Geist, noch den Freiheitswillen der Arzach-Armenier brechen können.

In Berlin will die Gesellschaft für bedrohte Völker am 23. August die Bundesregierung mit einer Mahnwache am Kanzleramt auf den Genozid im Kaukasus aufmerksam machen.

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