Wie Ostdeutschland von Nazis überrollt wurde

Die AfD liegt in Umfragen hoch im Kurs, ihre besten Ergebnisse erzielt sie in Ostdeutschland. Was ist aus der ehemaligen DDR geworden?

  • Nathaniel Flakin
  • Lesedauer: 4 Min.

In diesem Sommer machte die Stadt Raguhn-Jeßnitz international von sich reden. Diese Ansammlung von Dörfern mit weniger als 10.000 Einwohner*innen wählte mit 51 Prozent einen Bürgermeister der AfD – den ersten Bürgermeister der rechtsextremen Partei seit ihrer Gründung vor einem Jahrzehnt.

Jüngste Umfragen sehen die AfD bei bis zu 20 Prozent – doppelt so viel wie bei den letzten Wahlen 2021 – und damit hinter der CDU/CSU. Während in ganz Europa rechte Parteien auf dem Vormarsch sind, finden viele dies in Deutschland beunruhigender als beispielsweise in Finnland.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz macht dafür einen fortschreitenden kulturellen Wandel verantwortlich: »Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur AfD.« Vielleicht treibt auch die vorgeschlagene Umstellung von Gasheizungen zu elektrischen Wärmepumpen die Menschen nach rechts. Merz' Lösung ist ein Kulturkampf im Stil des Republikaners Ron DeSantis, nur mit weniger Charisma. Mit anderen Worten: Stoppt die AfD, indem ihr alle ihre Argumente aufgreift.

Hier geht es um etwas anderes. Es geht nicht wirklich um Windräder oder Regenbogenflaggen. Es geht nicht einmal um Einwanderung, wenn man bedenkt, dass die Menschen, die sich am meisten über »unkontrollierte Einwanderung« aufregen, in Gegenden leben, in denen sie nie einem Ausländer begegnen. Besonders stark ist die AfD in Ostdeutschland, wo sie bis zu 32 Prozent erreicht. Dieses Gebiet war von 1949 bis 1989 die Deutsche Demokratische Republik (DDR).

Kolumne »Red Flag«

»Red Flag« ist eine Kolumne über Berliner Politik von Nathaniel Flakin. Sie erschien von 2020 bis 2023 im Magazin »Exberliner« und fand ein neues Zuhause bei der Zeitung »nd« – als deren erster Inhalt, der auch auf Englisch zu finden ist. Nathaniel ist auch Autor des antikapitalistischen Reiseführers Revolutionary Berlin.

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Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), sieht auch 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR deren Schuld: Die Menschen im Osten seien »in einer Form diktatursozialisiert, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.«

Diese Kolumne erscheint im »nd«, dem einstigen Sprachrohr der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), das heute eine unabhängige Genossenschaft im Besitz der Mitarbeiter*innen und Leser*innen ist. Sie scheint ein guter Ort zu sein, um dieses Argument zu zerpflücken.

Die DDR war zweifelsohne eine stalinistische Diktatur: Die Regierung unterdrückte die Zivilgesellschaft vollständig, verfolgte aber auch Nazis. Gleichzeitig garantierte die DDR Arbeitsplätze und Wohnraum für alle.

Nicht in den 40 Jahren der DDR, sondern in den 30 Jahren danach kam es zum Aufstieg faschistischer Kräfte. Nach der Wende, als der kapitalistische Westen seinen kleineren Nachbarn schluckte, wurde die Planwirtschaft verschrottet. Das ließ Millionen ehemaliger DDR-Bürger*innen arm und offen für autoritäre Phantasien zurück. Vor allem junge Frauen verließen den ehemaligen Osten, was zu einer der männerreichsten Regionen Europas führte.

Neben einer wirtschaftlichen Schockdoktrin erhielt der Osten auch einen neuen Staatsapparat mit Geheimdiensten, die von Nazis und Kriegsverbrechern gegründet worden waren. Ein aktuelles Beispiel ist Hans-Georg Maaßen, ein ehemaliger Leiter des Verfassungsschutzes, der sich inzwischen als antisemitischer Verschwörungstheoretiker geoutet hat und gegen »Globalisten« wettert, die heimlich die Welt kontrollieren. In den 1990er Jahren leitete der Verfassungsschutz viel Geld an Nazigruppen im Osten weiter – wenn man deren Version glaubt, musste man Nazis finanzieren, um zu wissen, was die Nazis treiben.

Die kapitalistische Restauration bearbeitete den Boden und westdeutsche Nazis pflanzten die Saat für den aktuellen Aufstieg der AfD. In den 1990er und 2000er Jahren wurde all diese Unzufriedenheit in die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) kanalisiert – eine Proteststimme gegen die Übel des Kapitalismus. Aber die PDS war so erfolgreich, dass sie Teil des Establishments wurde. Jetzt heißt die Partei Die Linke und verwaltet genau das Elend, das sie zu bekämpfen versprochen hat.

Bundesfinanzminister Christian Lindner hat den Menschen gesagt, sie sollten lieber Die Linke statt die AfD wählen – was genau erklärt, warum so viele Menschen das Gegenteil tun. Das quälende Paradoxon ist, dass Menschen, die in Armut gefangen sind, eine Proteststimme für eine Partei abgeben, die drastische Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung fordert. Die AfD behauptet gerne, sie sei eine Partei der kleinen Leute, aber in Wirklichkeit wird sie von Milliardären finanziert.

Der einzige Ausweg aus dieser faschistischen Abwärtsspirale besteht darin, den Menschen das zu geben, was sie einst hatten: ein Gefühl von Sicherheit und Sinn durch würdige Arbeit. Ich sage nicht, dass wir die DDR wieder brauchen – schließlich hat man früher kritische Kommunisten wie mich eingesperrt. Aber wir brauchen einen Sozialismus, der auf extremer Demokratie basiert.

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