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Die Grenzen des Fahrradsozialismus
Ein als Kollektiv betriebener Lieferdienst in Wien versucht, den Platzhirschen zu trotzen
Das Büro der Hermes Radbot*innen in Wien-Leopoldstadt könnte genauso gut eine Studierenden-WG sein. Eine durchgesessene, braune Couch, Poster, selbstgedrehte Zigaretten, ein Hund unterm Schreibtisch und Fruchtsäfte, die man eben noch beim Wahlkampf der Österreichischen Hochschüler*innenschaft abgestaubt hat, bilden das Dekor des rund 15 Quadratmeter großen Raumes. Nur wenn das Telefon schrillt – und das tut es oft und laut – und der sogenannte Dispatcher zunächst auf einen der drei Bildschirme starrt und anschließend Adresse und Route an eine Kollegin oder einen Kollegen durchgibt, wird Außenstehenden klar: Hier wird gearbeitet.
Die meisten in Wien lebenden Menschen kennen die pinken und orangen Fahrradbot*innen, die im Auftrag von Foodora und Lieferando Pizza, Pasta und Burger ausliefern. Die Hermes Radbot*innen sind den wenigsten in der Stadt ein Begriff. Statt auf grelles Branding setzt das Kollektiv auf unscheinbare Funktionskleidung, statt Pizza, Pasta und Burger bringen sie Zahnproben, Schlüssel und Labortests. Und statt für einen internationalen Konzern arbeiten sie für sich selbst, ohne Hierarchie und aus politischer Überzeugung. Dennoch sind sie weit davon entfernt, ein Vorbild für die Branche zu sein.
Österreichs Lieferdienstszene wird von zwei Platzhirschen dominiert: der pinke Lieferdienst Foodora (bis Anfang April noch als Mjam bekannt und in leuchtendem Grün unterwegs) und der orange Lieferdienst Lieferando. Stand Oktober 2022 fahren 1800 Foodora-Rider durch Wien, für Lieferando gibt es keine offiziellen Zahlen, laut Schätzungen ist die Mitarbeiter*innenzahl ähnlich hoch. Foodora ist Teil des Berliner Konzerns Delivery Hero, Lieferando wiederum Teil des Amsterdamer Konzerns Just Eat Takeaway. Beide Konzerne sind wirtschaftlich eng miteinander verflochten – was im März die österreichische Bundeswettbewerbsbehörde wegen möglichen Missbrauchs von Marktmacht auf den Plan rief.
Aber: Mit Blick auf die Arbeitsbedingungen unterscheiden sich Foodora und Lieferando erheblich. Der orange Konzern beschäftigt alle seine Rider regulär, wodurch diese unter den Tarifvertrag (in Österreich: Kollektivvertrag) fallen. Seit Januar 2023 haben sie daher Anspruch auf einen Mindeststundenlohn von zehn Euro pro Stunde bzw. 1730 Euro pro Monat. Ihnen steht bezahlter Urlaub zu sowie ein 13. und 14. Gehalt, und sie werden im Krankheitsfall bezahlt. Anders bei Foodora: Stand Oktober 2022 sind lediglich sieben Prozent der Rider fix angestellt, die Restlichen arbeiten als sogenannte freie Dienstnehmer*innen und fallen nicht unter den Kollektivvertrag. Im Unterschied zu den echten Dienstnehmer*innen werden Freie pro Auftrag bezahlt, für jede zugestellte Lieferung erhalten sie Stand Januar 2023 vier Euro. Liefern sie nicht, weil die Auftragslage mau ist, weil sie krank oder im Urlaub sind, erhalten sie kein Geld. Auch Urlaubs- oder Weihnachtsgeld bekommen sie keines.
Foodora bewirbt ihre freien Dienstverträge mit den Schlagwörtern Flexibilität und Entscheidungsfreiheit. In der überwiegenden Zahl sind es Studierende, die sich kurzfristig ihr Monatseinkommen aufbessern wollen, oder Migrant*innen, die mangels Sprachkenntnisse und Qualifikation wenig berufliche Alternativen haben, die sich die orangen oder pinken Rucksäcke umschnallen und damit durch die Stadt hasten. Medienrecherchen und Studien legen nahe, dass die Flexibilität in vielen Fällen eine erzwungene ist und die Entscheidungen wenig mit Freiheit zu tun haben.
Anders bei den 18 Mitgliedern des Hermes-Kollektivs. Zwar fallen auch sie nicht unter den Kollektivvertrag, doch die Motivation hinter ihrer Arbeit könnte verschiedener nicht sein. Sie sind als Verein organisiert, alles, was sie verdienen, werfen sie in einen Topf und bezahlen sich daraus einen Stundenlohn aus, der dem Mindestlohn des Kollektivvertrags entspricht. 1730 Euro brutto im Monat bescheren einem in Österreich kein Luxusleben, netto entspricht das gut 1400 Euro. Doch in den Reihen der Hermes-Bot*innen herrscht Einigkeit darüber, dass das Leben mehr ist als Arbeit und Arbeit mehr als ein Einkommen. Neben einem wirtschaftlichen ist das Hermes-Kollektiv auch ein politisches Projekt. Alle erhalten denselben Lohn, alle entscheiden alles gemeinsam. Leistungsdruck, Konkurrenzdenken und Hierarchien sollen dadurch abgebaut werden. Ihren in der Branche herausragenden Frauenanteil von 50 Prozent könnten sie nur dadurch erreichen. Die Hermes-Kuriere sind davon überzeugt, dass Wirtschaft ohne Profitlogik, Großkonzerne und Ausbeutung funktionieren kann.
Als Radbot*innenkollektiv wollen sie eine soziale, integrative und ökologisch nachhaltige Wirtschaftsweise im Kleinen vorleben. Mit den mehr als 100 000 Radkilometern, die sie als Kollektiv jährlich zurücklegen, sparen sie laut eigenen Angaben im selben Zeitraum 20 Tonnen CO2 ein. Einmal monatlich halten sie ein Plenum ab, Entscheidungen treffen sie ausschließlich einstimmig. »Hermes Radbot*innen ist der einzige, basisdemokratisch von den Fahrer*innen gemeinsam geführte Bot*innendienst der Stadt«, heißt es auf der Homepage. Ihre Arbeit verstehen sie als gelebte Kapitalismuskritik, »uns gehören die Produktionsmittel!«, sagt die Fahrerin mit dem Nicknamen Fellini stolz.
Doch wie viel Macht können die 18 Hermes-Rider tatsächlich über ihre Produktionsbedingungen ausüben? Vor zehn Jahren erzählte ein Hermes-Fahrer der Tageszeitung »Standard«, »die goldenen Zeiten sind längst vorbei«. Wann denn die Zeiten das letzte Mal golden waren? Verlegenes Schmunzeln im Raum. Das Hermes-Kollektiv wurde 1992 gegründet, golden waren die Zeiten, wenn überhaupt, in den 90ern. Vor der Digitalisierung, vor Amazon, bevor Großkonzerne bei Kund*innen die Erwartung festigten, Zustellungen hätten per se gratis zu sein. Im Gegensatz zur börsennotierten Konkurrenz müssen die Hermes-Bot*innen ohne algorithmengesteuerte Logistik, ohne Verteilzentrum und ohne digitalisierte Verwaltung auskommen, welche die Kosten von millionenfach versendeter Pakete auf Minimum reduzieren. In der Hermes-WG ist die Büroarbeit noch Handarbeit, ihre Aufträge bekommen die Fahrer*innen vom Dispatcher, der via Telefon Route und Adresse durchgibt. Das hat Charme, kostet aber Zeit und Geld.
Die Qualität der eigenen Arbeit ist die Währung, mit der Hermes gegen Foodora, DPD, Amazon und Co. konkurriert. Die Fahrer*innen aus der Leopoldstadt liefern pünktlich, zuverlässig und schnell; von den Alleen der Wiener Außenbezirke bis in die verwinkelten Gassen des 1. Bezirks kennen sie die meisten Adressen auswendig, auf Kartenmaterial sind sie nur in Ausnahmefällen angewiesen. Sie fahren bei Wind und Wetter, lediglich bei Schneestürmen oder sintflutartigen Regenfällen suchen sie kurz Unterschlupf.
Diese Qualität hat ihren Preis, eine »normale« Lieferung mit weniger als drei Kilometern Luftlinie Lieferweg kostet brutto 11,40 Euro, in der Express-Variante 17,10 Euro. Eine mit dem Lastenrad transportierte Cargo-Ware mit 15 bis 17 Kilometer Lieferstrecke bringt es auf stolze 102,60 Euro. Am Ende des Monats schaffen sie es damit, sich selbst einen Mindestlohn auszuzahlen. Die Mitglieder des Hermes-Kollektivs betrachten ihre Situation nicht als prekär, aber etwas mehr als zehn Euro stündlich sollte es künftig schon sein, bekräftigen die Anwesenden im Büro. Derzeit gäben die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen allerdings nicht mehr her.
Auch wenn man den Weg zum Sozialismus laut einem viel zitierten Bonmot am besten mit dem Fahrrad zurücklegt, stellt sich die Frage: Kann ein basisdemokratisch organisiertes Kollektiv, das sich der Profitlogik kapitalistischer Märkte widersetzt, so wirtschaften, dass für alle Beteiligten ein auskömmliches Einkommen rausspringt? Ja, findet Felix Gnisa, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe »Digitale Technologien und gesellschaftlicher Wandel« am Karlsruher Institut für Technologie. Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat Gnisa Fahrrad-Kooperativen in ganz Europa untersucht. Ausschlaggebend für die Profitabilität der Zusammenschlüsse seien Größe und Entscheidungsstrukturen. Gerade kleinere Verbände mit zehn bis 20 Mitgliedern und basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen hätten Probleme, Mindestlöhne zu bezahlen. Größere Kooperativen, betont der Soziologe, hätten durchaus die Möglichkeit, nachhaltiger zu wirtschaften. Doch nur, wenn eine Balance zwischen Demokratie und Wirtschaftlichkeit gelinge, ergänzt Gnisa.
Aus seiner Forschung weiß der Soziologe: Wollen Kooperativen mehr Umsatz machen, müssen sie sich »von den Vorstellungen eines völlig gleichberechtigten Arbeitsalltages verabschieden«. »Wer wächst, braucht ein gewisses Maß an Hierarchien und fachliche Verantwortlichkeiten«. Basisdemokratische Entscheidungen sollten sich auf richtungsweisende unternehmerische Entscheidungen beschränken, nicht auf das Kleinklein des Arbeitsalltags. Das spart Zeit und fördert die Wettbewerbsfähigkeit.
Und noch eine Gemeinsamkeit gibt es bei den von Gnisa untersuchten Kooperativen: Sie haben sich allesamt aus der Essenszustellung zurückgezogen. Zu groß ist der Konkurrenzdruck durch internationale Konzerne, die mit Algorithmen und minimalen Transaktions- und Arbeitskosten wirtschaften. Die untersuchten Kooperativen funktionierten – wie auch Hermes – vor allem im Bereich »klassischer Kurierdienste«, sie liefern Anwaltsdokumente, Gebisse und Blutproben.
Auf diese hochpreisigen Nischenprodukte, die meist von zahlungskräftigen und -willigen Kund*innen geordert werden, setzt auch das Hermes-Kollektiv; aber Wachstumsstreben, Konkurrenzfähigkeit, Arbeitsteilung und Hierarchien kommen den Hermes Radbot*innen nicht in Haus. Man kennt sich, man mag sich, man schätzt sich, man arbeitet gern zusammen. Kuriere sind sie nicht aus Alternativlosigkeit, sondern aus politischer Überzeugung. Hier entscheiden alle über alles, machen alle alles, auch Wäschewaschen und Putzen. »Das ist manchmal zach viel Aufwand«, sagt Fellini, »aber gehört eben dazu«.
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